Völkermord in Ruanda  

Als Völkermord in Ruanda werden umfangreiche Gewalttaten in Ruanda bezeichnet, die am 6. April 1994 begannen und bis Mitte Juli 1994 andauerten. Sie kosteten zirka 800.000 bis 1.000.000 Menschen das Leben, die niedrigsten Schätzungen gehen von mindestens 500.000 Toten aus. In annähernd 100 Tagen töteten Angehörige der Hutu-Mehrheit etwa 75 Prozent der in Ruanda lebenden Tutsi-Minderheit sowie moderate Hutu, die sich am Völkermord nicht beteiligten oder sich aktiv dagegen einsetzten. Die Täter kamen aus den Reihen der ruandischen Armee, der Präsiden-tengarde, der Nationalpolizei (Gendarmerie) und der Verwaltung. Zudem spielten die Milizen der Impuzamugambi sowie vor allem der Interahamwe eine besonders aktive Rolle. Auch weite Teile der Hutu-Zivilbevölkerung beteiligten sich am Völkermord. Der Genozid ereignete sich im Kontext eines langjährigen Konflikts zwischen der damaligen ruandischen Regierung und der Rebellenbewegung Ruandische Patriotische Front (RPF). Im Verlauf und im Nachgang der Ereignisse wurden die Ver-einten Nationen (UN) und Staaten wie die USA, Großbritannien und Belgien wegen ihrer Untätigkeit kritisiert. Dabei stand die Frage im Mittelpunkt, aus welchen Gründen eine frühzeitige humanitäre Intervention nicht erfolgte, beziehungsweise warum die vor Ort stationierten Friedenstruppen der Vereinten Nationen, die United Nations Assistance Mission for Rwanda (UNAMIR), bei Ausbruch der Gewalt nicht gestärkt, sondern verkleinert wurden. Gegen Frankreich wurde überdies der Vorwurf erhoben, sich an den Verbrechen beteiligt zu haben. Der Völkermord in Ruanda erzeugte darüber hinaus erhebliche regionale Probleme. Nachdem die RPF die Hutu-Machthaber vertrieben, damit den Völkermord beendet und eine neue Regierung gebildet hatte, flohen im Sommer 1994 Hundert-tausende Hutu in den Osten von Zaire (heute Demokratische Republik Kongo). Unter den Flüchtlingen waren viele Täter, die anschließend zur Wiedereroberung Ruandas rüsteten. Die ruandische Armee nahm diese Aktivitäten mehrfach zum Anlass, um im westlichen Nachbarland zu intervenieren. 

Vorgeschichte „Tutsi“ und „Hutu“ in vorkolonialer und kolonialer Zeit
Die ruandischen Staatsgrenzen waren bereits vor dem Auftreten der europäischen Kolonialmächte weitgehend gefestigt. Unter der Regentschaft von Kigeri Rwabugiri, der von 1853 bis 1895 in Ruanda als König herrschte, setzten sowohl begrenzte regionale Expansions- als auch staatliche Zentrali-sierungstendenzen ein. Vormals autonome kleinere Regionen im Westen und Norden wurden dem Herrschaftsgebiet Rwabugiris einverleibt, die staatliche Macht wurde zentralisiert. Außerdem begann innerhalb des Herrschaftsgebiets eine stärkere Differenzierung der Bevölkerungsgruppen. Dabei erlangten die überwiegend mit Viehzucht befassten Personen, „Tutsi“ genannt, zunehmend Macht über Ackerbauern, die als „Hutu“ bezeichnet wurden. Die Twa, eine dritte Gruppe, die als Jäger und Sammler lebten, spielten bei dieser Veränderung der Herrschaftsbeziehungen keine Rolle. Im Reich von Rwabugiri entwickelte sich der Begriff „Tutsi“ mehr und mehr zu einem Synonym für Angehörige der herrschenden Schicht eines sich herausbildenden Zentralstaats, während der Terminus „Hutu“ zum Namen für die Gruppe der Beherrschten wurde.  Mit Beginn ihrer Kolonial-herrschaft (1899–1919) interpretierten die Deutschen die abgestuften Sozialbeziehungen in Ruanda auf der Basis der rassistischen, in Europa entwickelten Hamitentheorie. Sie gingen davon aus, die Tutsi seien vor Jahrhunderten in das Gebiet der Afrikanischen Großen Seen eingewanderte Niloten, die kaukasischen und damit europäischen Völkern verwandt seien. Dies begründe ihre Herrschaft über die als weniger hoch stehend wahrgenommenen „negridenEthnien Zentralafrikas, zu denen in den Augen der Deutschen die Hutu gehörten. Die Kolonialherren banden die Tutsi als lokale Macht-träger in das System ihrer indirekten Herrschaft ein.
Im Verlauf des Ersten Weltkriegs übernahmen die Belgier nach einer Reihe begrenzter Gefechte faktisch die Macht in Ruanda, noch bevor sie ihnen 1919 in der Pariser Friedenskonferenz offiziell zugestanden und Ruanda 1923 vom Völkerbund zum Mandatsgebiet Belgiens erklärt wurde. Die Belgier setzten die indirekte Herrschaft fort. Auch sie hielten die unterschiedliche Machtverteilung zwischen Hutu und Tutsi für das Ergebnis einer rassischen Überlegenheit der Tutsi. Die neuen Kolonialherren führten ein System der Zwangsarbeit ein, mit dessen Hilfe sie das Land wirtschaft-lich erschließen wollten. Sie individualisierten zudem die Ansprüche ihrer Macht gegenüber den Einzelnen, indem sie den Einfluss von Clans und Lineages durch Verwaltungsreformen zurückdrängten. Zu den folgenreichsten Administrativmaßnahmen der Belgier gehörte 1933/34 die Ausstellung von Ausweispapieren im Gefolge einer Volkszählung. Diese Dokumente fixierten die ethnische Zuge-hörigkeit jedes Einzelnen, war er nun Twa, Hutu oder Tutsi. Die ethnische Zuordnung aller Ruander war fortan in Verwaltungsregistern festgeschrieben. Die Unterscheidung der Menschen nach sozialem Status und wirtschaftlichen Aktivitäten wurde biologisiert und damit zu einer nach Rassen. In der Zwischenkriegszeit förderte die Katholische Kirche in ihren Missionsschulen die Tutsi stärker als die Hutu. Diese schulische Ausbildung bot den Tutsi die Perspektive, in die Landesverwaltung einzutreten, denn der Unterricht in Französisch bereitete sie darauf vor. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges wandelte sich das Selbstverständnis der Missionare. Sie verstanden sich zunehmend als Helfer und Sprachrohr der unterprivilegierten Hutu, nicht mehr als Förderer der Tutsi-Elite. Die Schulen boten verstärkt auch für Hutu den Zugang zu westlicher Bildung. Der ent-stehende Hutu-Klerus gehörte zur Elite der Hutu, die zunehmend ein Gegengewicht zur Tutsi-Herrschaft bildete und auf politische Teilhabe und Demokratisierung des Landes drängte. Hutu-Revolution und Hutu-Regime unter Grégoire Kayibanda Angesichts der absehbaren Dekolonisation Ruandas radikalisierte sich die politische Debatte in den 1950er Jahren. Entlang der ethnischen Grenzen bildeten sich politische Parteien. In ihren Gründungsdokumenten und Programmen forderten Tutsi-Parteien einerseits die Weiterführung der Tutsi-Monarchie, weil dies der Überlegenheit der Tutsi und der historischen Tradition Ruandas entspräche. Andererseits diffamierten extremistische Hutu-Politiker die bestehende Tutsi-Hegemonie als Herrschaft einer landfremden Rasse. Belgien begann in den 1950er Jahren damit, Hutu in die Verwaltung Ruandas einzubinden. Dies weckte Ängste der Tutsi vor einem baldigen Machtverlust, ohne zugleich weitergehende Ansprüche von Hutu zu befriedigen, die sich nach der alleinigen Macht oder zumindest nach dem entscheidenden Anteil der Machtausübung in Ruanda sehnten. Wenige Monate nach dem Tod von Mutara Rudahigwa (Mutura III.), der seit 1931 als Monarch eingesetzt war, eskalierte ab November 1959 die Gewalt zwischen Hutu und Tutsi. Bevor die belgische Verwaltung die Ordnung wiederherstellen konnte, fielen den Gewalttaten mehrere Hundert Menschen zum Opfer. Im Anschluss an diese Ereignisse ersetzten die Belgier die Hälfte aller Tutsi in der Verwaltung durch Hutu. Am deutlichsten kam der Wandel auf der Ebene der Bürgermeister zum Ausdruck. 210 der insgesamt 229 Bürgermeisterposten waren jetzt von Hutu besetzt. Sie ersetzten die im Zuge der Unruhen getöteten oder geflohenen früheren Tutsi-Bürgermeister. Die traditionell hierarchische Orientierung, die früher die Loyalität gegenüber der lokalen Tutsi-Elite sicherstellte, half nun den neuen lokalen Hutu-Führern, die ihrerseits erfolgreich an die Zusammengehörigkeit der Hutu-Mehrheit appellierten. Diese Veränderungen waren die Basis für die Wahlsiege der Parmehutu (Parti du Mouvement et de l’Emancipation Bahutu) von 1960 und 1961, einer Hutu-Bewegung, die sich für die Abschaffung der Monarchie, für die Einführung republikanischer Verhältnisse, für die Unabhängigkeit Ruandas von Belgien und vor allem für das rasche Ende der Tutsi-Herrschaft stark machte. Dieser Umbruch der politischen Verhält-nisse ist in die Geschichte Ruandas als Hutu-Revolution eingegangen. Bereits vor der Unabhängigkeit Ruandas im Juli 1962 flohen mehrere Zehntausend Tutsi in die Nachbarländer Ruandas. Grégoire Kayibanda festigte als Führer der Parmehutu die Herrschaft der Hutu, indem er selbst die Präsi-dentschaft des Landes übernahm und einen Einparteienstaat errichtete. Mehrfache und teilweise sehr weit ins Landesinnere Ruandas reichende Guerilla-Angriffe von Tutsi-Flüchtlingen wurden 1967 endgültig zurückgeschlagen. Zugleich richtete sich die staatliche Gewalt in jenen Jahren immer wieder gegen die in Ruanda verbliebenen Tutsi, denen Sympathien mit der Tutsi-Guerilla nachgesagt wurden. Sie führte zur Vertreibung der Tutsi aus bestimmten Landesteilen. Häufig war sie mit Angriffen auf Eigentum, Leib und Leben der Tutsi verbunden. Etwa 20.000 Tutsi verloren durch diese vom Staat geförderten oder tolerierten Angriffe ihr Leben, zirka 30.000 weitere flohen ins Ausland. Alle noch im Land lebenden Tutsi-Politiker wurden ermordet. Das Hutu-Regime machte seither die Bedrohung durch die Tutsi-Rebellen für alle wesentlichen innenpolitischen Probleme des Landes verantwortlich. Die Hutu konstruierten zugleich den in Krisensituationen stets reaktivierten Mythos eines langen, mutigen und erfolgreichen Kampfes gegen erbarmungslose Unterdrücker. 

Hutu und Tutsi bis Ende der 1980er Jahre 
Im Oktober 1972 richtete sich erneut eine massive Welle der Gewalt gegen die ruandischen Tutsi. Präsident Kayibanda griff nicht ein, um seine Macht, die von extremistischen Hutu infrage gestellt wurde, nicht zu gefährden – diese forderten im Angesicht von ausgedehnten Massakern an Hutu im Nachbarland Burundi, bei denen rund 100.000 bis 150.000 Hutu umgebracht wurden, Vergeltungs-maßnahmen gegen Tutsi. Erst im Februar 1973 unterband der Präsident die Gewalttaten und zog damit die Aggressionen der extremistischen Hutu auf sich. Im Streit zwischen gemäßigten und extremistischen Hutu-Gruppen ergriff Verteidigungsminister Juvénal Habyarimana die Initiative und übernahm am 5. Juli 1973 in einem Putsch die Macht. Habyarimana, einem Hutu aus dem Norden Ruandas, gelang es, die Konflikte zwischen Hutu und Tutsi zu unterbinden. Er verbot die Parmehutu und schuf stattdessen die auf ihn zugeschnittene Einheitspartei Mouvement républicain national pour le développement (MRND). Neben dieser Partei und dem Militär als Machtbasis setzten der neue Präsident und seine Ehefrau Agathe auf Clan- und Verwandtschaftsbeziehungen zur Absicherung der Herrschaft. Die entscheidenden Posten vor allem in der Armee blieben Personen seines Herkunfts-gebiets im Nordwesten Ruandas vorbehalten. Diese Machtgruppe wird als akazu (Kleines Haus) bezeichnet. Trotz vordergründiger Befürwortung von Chancengleichheit beschränkten die offiziellen Stellen für Tutsi den Zugang zu Bildung und Arbeitsplätzen sowie zur politischen Macht. Zunächst war die Wirtschaftspolitik des neuen Präsidenten erfolgreich.

Der wirtschaftliche Aufschwung hielt jedoch nicht lange an. Mitte der 1980er Jahre geriet Ruanda in eine Staatskrise. Die Wirtschaft des Landes litt unter dem rasanten Verfall des Kaffeepreises – 75 Prozent aller Exporte basierten auf der Kaffeeproduktion. Verschärfend wirkten das durch die verbesserte medizinische Versorgung beschleunigte Bevölkerungswachstum und die damit verbun-dene zunehmende Knappheit an Landressourcen. Der Mangel an industriellen Arbeitsplätzen – mehr als 90 Prozent der Menschen lebten von Landbau – sorgte für eine Zuspitzung der Wirtschaftskrise. Ruanda war gezwungen, Strukturanpassungsprogramme zu akzeptieren und damit drastische Spar-maßnahmen einzuführen, die unter anderem das Ende der unentgeltlichen Schulbildung und kosten-freier medizinischer Versorgung bewirkten. Die Abwertung der Landeswährung verteuerte zudem viele Importprodukte, zu denen vor allem auch Nahrungsmittel zählten. Insbesondere unter arbeits-losen Jugendlichen und jungen Erwachsenen breitete sich angesichts dieser Umstände zunehmend ein Gefühl der Nutz- und Perspektivenlosigkeit aus. Bürgerkrieg und blockierte Demokratisie-rung Ruanda und seine Präfekturen zur Zeit des Genozids. Seit Anfang 2006 gliedert sich das Land in fünf Provinzen. Die Staatskrise untergrub die Autorität Habyarimanas. Sie führte zur Bildung oppositioneller Gruppen, die den Kurs des Präsidenten kritisierten. Diese Gruppen, die insbesondere in den südlichen Landesteilen Rückhalt hatten, forderten eine Demokratisierung. Die Monopolisierung der Macht durch Vertraute Habyarimanas aus seiner Heimatregion sollte ein Ende haben. Das Aus-land unterstützte diese Forderungen. Insbesondere die westlichen Geberländer sahen nach dem Ende des Kalten Krieges Chancen zur Überwindung undemokratischer Verhältnisse in Afrika. Neben der Forderung nach Demokratisierung übte der internationale Appell, das mittlerweile 30 Jahre alte Flüchtlingsproblem zu lösen, Druck auf den Personenkreis um Habyarimana aus. Der Präsident hatte es seit seinem Machtantritt unter Verweis auf die Landknappheit abgelehnt, die Tutsi-Flüchtlinge wieder in Ruanda anzusiedeln. Schätzungen besagen, dass Anfang der 1990er Jahre zirka 600.000 Tutsi als Flüchtlinge im Ausland lebten. Einen weiteren Faktor für die Loyalitätskrise der Staats-macht stellten Gerüchte über eine bevorstehende, erneute Invasion von Tutsi-Rebellen dar, die in Uganda aufgewachsen waren. Habyarimana kündigte in dieser Situation Anfang Juli 1990 politische Reformen an. Umgesetzt wurden diese Vorhaben zunächst nicht, denn die politische Auseinander-setzung verwandelte sich in eine militärische – am 1. Oktober 1990 begann von Uganda aus der An-griff der Tutsi-Rebellenarmee Ruandische Patriotische Front (RPF). Mit diesem Feldzug begann ein Bürgerkrieg, der erst mit dem militärischen Sieg der RPF im Juli 1994 enden sollte. Habyarimana bat Belgien, Frankreich und Zaire um militärische Unterstützung. Die jeweiligen Regierungen entsprachen diesem Wunsch. Die gewährte Hilfe versetzte die Regierungsarmee Ruandas in die Lage, den ersten Angriff der RPF zurückzuschlagen. Die belgischen Truppen verließen daraufhin das Land, die Ein-heiten Zaires mussten abziehen, weil sie plünderten, die französischen Militärs blieben jedoch im Land und stärkten die Kapazitäten Habyarimanas. Mit französischer Hilfe wuchs die Armee Ruandas von 5200 Mann im Jahr 1990 auf zirka 35.000 Mann im Jahr 1993. Französische Offiziere enga-gierten sich in der Ausbildung der ruandischen Armeeangehörigen. Gleichzeitig wurde die Ausstat-tung mit Kriegswaffen, insbesondere Kleinwaffen, wiederum vor allem mit französischer Unter-stützung, erheblich ausgebaut. Ruanda war in den Jahren von 1992 bis 1994 der drittgrößte Waffen-importeur der Subsahara-Region. Der Präsident und seine politischen Vertrauten blockierten ins-geheim die Demokratisierung, auf die sie sich scheinbar einließen. Journalisten, die die Staatsspitze kritisierten, wurden verfolgt. Die Personengruppe um Habyarimana förderte Radiostationen und Zeitungen, die aggressiv gegen die Opposition und gegen die Tutsi hetzten. Zu einer Machtteilung mit den entstehenden neuen Parteien per Koalitionsregierung war Habyarimanas MRND erst im April 1992 bereit. Zu den neuen Parteien gehörte zudem eine, die bereit war, die bestehende Herrschaft der Hutu mit radikalen Mitteln zu verteidigen. Die Coalition pour la Défense de la République (CDR),  gegründet von Personen aus dem Umkreis des Präsidenten, plädierte für eine Vertreibung der Tutsi und baute ab 1992 die Miliz Impuzamugambi auf. Die Präsidentenpartei MRND organisierte im selben Jahr die Interahamwe. Von Oktober 1990 bis April 1994 wurden Tutsi und Hutu-Oppositionelle im-mer wieder Opfer von Gewalt und Massakern, die als Rache für militärische Erfolge der RPF dekla-riert wurden. Die Behörden förderten diese Gewaltakte oder nahmen sie hin. Die Täter wurden nie bestraft. Diese Menschenrechtsverletzungen, bei denen etwa 2000 Tutsi und etliche Hutu getötet wurden, gelten als Vorläufer des Völkermords. Trotz der Niederlage der RPF Ende Oktober 1990 blieb die Rebellenarmee ein entscheidender Faktor in der ruandischen Politik der kommenden Jahre. Paul Kagame vergrößerte und reorganisierte die Truppe. Immer wieder gelangen ihr militärische Überfälle und Besetzungen von Landesteilen in der Nähe der ugandischen Grenze. Die Feldzüge und Okkupationen erzeugten ein massives innerruandisches Flüchtlingsproblem. Ende der 1980er Jahre lag diese Zahl der Binnenflüchtlinge bei zirka 80.000, 1992 belief sie sich auf etwa 350.000, nach der RPF-Februaroffensive von 1993 stieg sie auf etwa 950.000 an.
Zwischenzeitlich erreichte Waffenstillstandsvereinbarungen blieben brüchig. 1992 gelang der RPF die Ausweitung ihrer Einflusszone. Sie beherrschte jetzt die nördliche Präfektur Byumba, die als „Brotkorb“ Ruandas galt. Dieser Erfolg zwang die ruandische Regierung dazu, ab Mitte 1992 in den Friedensprozess von Arusha einzutreten, der die Befriedung des Landes versprach. Die Verhand-lungen in der tansanischen Stadt stockten, wurden unterbrochen oder durch zwischenzeitlich wieder aufgenommene Kampfhandlungen unterlaufen. Im Kern ging es bei den Verhandlungen in Arusha um die Frage der Rückkehr der ruandischen Flüchtlinge und die Rückführung ihres früheren Eigentums, um die Frage der Machtteilung zwischen der MRND, den anderen ruandischen Parteien und der RPF, um die Demobilisierung der Armeen und ihre Synthese zu einem gemeinsamen Militärapparat sowie um die Einsetzung einer UN-Friedenstruppe zur Absicherung der Verhandlungsergebnisse. Obwohl in Arusha zwischen August 1992 und August 1993 insgesamt vier Abkommen unterzeichnet wurden und obgleich am 4. August 1993 schließlich der Friedensvertrag von Arusha paraphiert wurde, opponier-ten große Teile der MRND und die gesamte CDR gegen die Übereinkunft. „Hutu-Power“ Dem Perso-nenkreis um Habyarimana war es 1993 gelungen, die wichtigsten Oppositionsparteien zu spalten. Moderaten Hutu-Führern standen nun Vertreter der so genannten „Hutu-Power“ gegenüber. Diese lehnten jedes Zugeständnis an die RPF und damit vor allem jede Beteiligung der Tutsi an politischer und militärischer Macht ab. Absicht war, mit der „Hutu-Power“-Bewegung die entstandenen neuen Loyalitäten gegenüber den Parteien abzulösen durch ein überparteiliches Bekenntnis zur Sache der Hutu, die angeblich durch die Tutsi bedroht sei. Personen aus dem Umfeld des Präsidenten organisierten diese Bewegung mit dem Endziel, einen Staat ohne Tutsi und ohne oppositionelle Hutu etablieren zu können. Die Existenz dieser Sammlungsbewegung wurde am 23. Oktober 1993 auf einer parteiübergreifenden Versammlung in Gitarama bekannt gegeben.Der rasche Bedeutungszuwachs der „Hutu-Power“ wurde durch zwei Ereignisse wesentlich beeinflusst. Zum einen demonstrierte die RPF im Februar 1993 ihre deutliche militärische Überlegenheit über die Regierungstruppen, als es ihr gelang, bis wenige Kilometer vor Kigali vorzustoßen. Allein die Mobilisierung von weiteren franzö-sischen Fallschirmjägern und erheblicher internationaler Druck auf die Führung der RPF stoppte ihren Vormarsch auf die ruandische Hauptstadt. Dieser Angriff erzeugte unter den Hutu Furcht vor dem militärischen Potenzial der Rebellen. Zum anderen ermordeten in Burundi Tutsi-Armee-angehörige am 21. Oktober 1993 den burundischen Präsidenten Melchior Ndadaye, einen moderaten Hutu. Dieses Ereignis löste in Burundi einen Bürgerkrieg aus. Unter den gemäßigten ruandischen Hutu stieg die Skepsis in Bezug auf eine friedliche Kooperation mit der RPF, Hutu-Hardliner sahen im Mord an Ndadaye den Beweis für ein erbarmungsloses Machtstreben der Tutsi im gesamten Gebiet der Afrikanischen Großen Seen. Die Spaltung der Parteien in moderate und extremistische Flügel ermöglichte es Habyarimana darüber hinaus, die Umsetzung des Arusha-Friedensabkommens hin-auszuzögern – den auseinanderstrebenden Parteifraktionen gelang es nicht, sich über die personelle Besetzung der Ministerposten zu einigen. 

Vorbereitung des Genozids 
Zur Vorbereitung des Völkermords gehörte die Entwicklung und Verbreitung einer Ideologie, die auf Vernichtung der Tutsi abzielte und jedes Zusammenleben mit ihnen als Verrat an den Hutu denun-zierte. Seit 1990 verbreitete die Zeitung Kangura unablässig entsprechende Aufforderungen. Die Publikation der so genannten „Zehn Gebote der Hutu“ war eine der prägnantesten rassistischen Äußerungen dieses Presseorgans. Zwei der zehn Gebote richteten sich dabei ausdrücklich gegen Tutsi-Frauen. Noch wichtiger war die Verbreitung solcher Botschaften über das Radio – Ruanda hatte eine Analphabetenquote von über 40 Prozent. Die Machtgruppe um Präsident Habyarimana nahm am 8. August 1993 den Sendebetrieb des Hass-Senders Radio-Télévision Libre des Mille Collines (RTLM) auf. Zu den insgesamt acht Moderatoren dieser Radiostation gehörte Georges Ruggiu, ein Belgier, der unter anderem Belgien und das belgische Blauhelm-Kontingent scharf angriff. Der Sender erfreute sich wegen seines lockeren Stils, aufgrund der Interaktion mit Hörern über Anrufe von und Interviews mit Hörern sowie wegen der offenbar ansprechenden Musikauswahl rasch großer Beliebtheit. Auch nutzte er – obwohl offiziell ein Konkurrenzmedium – Ressourcen des staat-lichen Senders und des Präsidentenpalastes. Zur Ausweitung der Hörerschaft teilte die Regierung kostenlos Radioapparate an lokale Behörden aus. In den Jahren zwischen 1990 und 1994 entwickelte sich eine Rhetorik gegen die Tutsi, die die Verfolgung und Vernichtung dieser Gruppe vorbereitete. Diese Rhetorik prägte die Aufrufe zur Gewalt in den Tagen des Völkermords. Einer ihrer zentralen Aspekte war die Technik des Verdrehens. In spiegelbildlichen Anschuldigungen warf die extre-mistische Hutu-Propaganda den Tutsi vor, sie planten die Vernichtung der Hutu. Ein kollektiver Präventivschlag der angeblich Bedrohten sei darum unvermeidlich. In diesem Zusammenhang spielten erfundene Meldungen über bestialische Gewalttaten an Hutu eine wichtige Rolle. Ein weiteres Element war die Ausgrenzung der Tutsi aus der Gemeinschaft der Ruander. Allein das Mehrheitsvolk der Hutu sei zur Herrschaft berechtigt. Konkurrierende Machtansprüche der Tutsi seien undemokratisch, weil diese nur nach der Refeudalisierung des Landes trachteten. Ein drittes Kennzeichen der Anti-Tutsi-Propaganda war die Entmenschlichung der Tutsi. Die Propaganda bezeichnete sie als Kakerlaken, Schlangen, Gewürm, Stechmücken, Affen etc., die es zu töten gelte. Schließlich zeichneten sich die verbalen Angriffe auf die Tutsi durch den Rückgriff auf die Sprache der Landwirtschaft aus. Die Hutu wurden aufgefordert, große Bäume und Buschwerk zu fällen – Chiffren für Tutsi. Junge Triebe – gemeint waren Kinder – dürften dabei keinesfalls geschont wer-den. Diese verkleideten Aufrufe zum Töten erinnerten die Adressaten an ihre Pflicht zur umuganda, zur gemeinschaftlichen und gemeinnützigen Arbeit.  Zur Vorbereitung des Angriffs auf die Tutsi gehörten ferner die Entwicklung und Umsetzung von Programmen zur Rekrutierung und Ausbildung von Milizen und Einheiten der „zivilen Selbstverteidigung“. Die herangezogenen Männer sollten von Ortspolizisten und von ehemaligen Soldaten der Regierungsarmee im Kampf gegen den „Feind“ ange-leitet werden. In den ersten Monaten des Jahres 1992 entwarf Oberst Théoneste Bagosora, ein führender Planer im Verteidigungsministerium, ein entsprechendes Programm der „zivilen Selbst-verteidigung“. Listen mit potenziellen Milizenführern wurden angefertigt. Zugleich erstellten extre-mistische Hutu 1993 und 1994 Todeslisten, die die Namen von Tutsi und oppositionellen Hutu ent-hielten. Auf diesen Listen befanden sich zirka 1500 Namen. Soldaten und politische Führer gaben gemäß diesen Planungen 1993 und Anfang 1994 in erheblichem Umfang Schusswaffen an die Bevöl-kerung aus. Weil diese Verteilung kostspielig war, entschloss sich die Machtgruppe um Habyarimana zum Kauf von Macheten. Die Zahl dieser nach Ruanda in den Wochen vor dem Völkermord impor-tierten Werkzeuge reichte aus, um landesweit jeden dritten erwachsenen Hutu damit auszustatten. Als landwirtschaftliche Werkzeuge waren Macheten in Ruanda seit Jahrzehnten in Gebrauch und weit verbreitet. Eine Erhebung aus dem Jahr 1984 zeigte, dass 83 Prozent aller ländlichen Haushalte Ruandas eine oder mehrere Macheten besaßen. Ein Bericht der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch legte im Januar 1994 offen, dass darüber hinaus in erheblichem Umfang Kriegswaf-fenlieferungen nach Ruanda gingen. 

Initialzündung
Die Ermordung von Präsident Habyarimana löste den Völkermord aus. Die Dassault Falcon 50, mit der er am 6. April 1994, begleitet vom burundischen Präsidenten Cyprien Ntaryamira, von einer Konfe-renz aus Daressalam zurückkehrte, wurde gegen 20:30 Uhr beim Landeanflug auf den Flughafen von Kigali mit Boden-Luft-Raketen abgeschossen. Alle Passagiere und die Crew kamen ums Leben. Wer für den Abschuss des Flugzeugs verantwortlich war, ist bis heute nicht bekannt. Häufig wird ver-mutet, dass extremistische Hutu die Maschine abgeschossen hätten, weil sie mit der Verhandlungs-führung des Präsidenten und dem Verhandlungsergebnis von Arusha nicht einverstanden gewesen seien. Die gegenteilige Annahme lautet, die Täter stammten aus den Reihen der RPF um Paul Kagame. Sie hätten nach einer Möglichkeit gesucht, den Konflikt mit der Hutu-Regierung nicht per Kompro-miss zu beenden, sondern per Bürgerkrieg endgültig zu ihren Gunsten zu entscheiden.  Ungefähr 30 Minuten nach dem Attentat begannen in Kigali die Morde an oppositionellen Hutu, prominenten Tutsi und Befürwortern des Arusha-Friedensabkommens. Die Täter, allen voran Mitglieder der Präsiden-tengarde, gingen anhand von vorbereiteten Listen vor, spürten ihre Opfer in deren Häusern auf und brachten sie um. Mitglieder anderer Truppenteile unter dem Kommando extremistischer Hutu-Offiziere sowie Milizen unterstützen sie dabei. Zu den ersten Opfern gehörte Premierministerin Agathe Uwilingiyimana, die gemäß der Verfassung nach dem Präsidenten das zweithöchste Staatsamt bekleidete. Ghanaische und belgische Angehörige der UNAMIR, die zu ihrem Schutz abgestellt waren, konnten ihre Ermordung nicht verhindern. Sie wurden gefangengenommen, die zehn belgischen Soldaten anschließend ebenfalls ermordet. Oberst Bagosora füllte noch in der Nacht vom 6. auf den 7. April das entstandene Machtvakuum an der Staatsspitze aus. Er machte sich zum Vorsitzenden des so genannten Krisenstabs, der ausschließlich aus Angehörigen des ruandischen Militärs bestand. Die vollständige Übernahme der Macht durch Bagosora lehnte die Mehrheit der Offiziere dieses Gremiums ab. Am 8. April ließ Bagosora extremistische Hutu-Politiker zusammenrufen und forderte sie zur Bildung einer Übergangsregierung auf. Zum Staatspräsidenten wurde Théodore Sindikubwabo, zum Premierminister Jean Kambanda ernannt. Die internationale Gemeinschaft rea-gierte auf den Ausbruch der Gewalt, indem sie Ausländer aus Ruanda ausflog. Französische und belgische Soldaten führten die entsprechenden Evakuierungsmaßnahmen durch. Die Zahl der statio-nierten Blauhelm-Soldaten wurde, ausgelöst durch die Ermordung der zehn belgischen UNAMIR-Angehörigen, drastisch reduziert. 

Regionale Ausbreitung der Gewalt
Die Gewalttaten breiteten sich rasch über das ganze Land aus. In den ersten Tagen des Völkermords fielen relativ wenige Tutsi den Gewalttaten zum Opfer. Ein Grund dafür lag in der vergleichsweise eingeschränkten Bewaffnung der Mörder – der Milizen und „Selbstverteidigungseinheiten“. Zugleich suchten viele Tutsi auf Anweisung der Behörden oder freiwillig Zuflucht in Schulen, Kirchen, Krankenhäusern, auf Sportplätzen, in Stadien und ähnlichen Orten. Sie hofften, sich in der Masse besser gegen die Angreifer zur Wehr setzen zu können. Häufig zögerte der Mob – bewaffnet mit Macheten, Speeren, Knüppeln, Nagelkeulen, Äxten, Hacken und ähnlichen Tatwaffen – den Angriff hinaus, weil er eigene Verluste befürchtete. Eine mögliche Taktik der Angreifer lag dann im Aushungern der Belagerten. In vielen Fällen änderte sich ab dem 13. April die Situation. Am 12. April hatten der staatliche Sender Radio Rwanda und RTLM massiv für eine Beendigung der politischen Differenzen unter den Hutu und ihren gemeinsamen Kampf gegen Tutsi geworben. Besser bewaff-nete Einheiten – zusammengesetzt aus Mitgliedern der Präsidentengarde, Armeeangehörigen, Reservisten und der Nationalpolizei – erschienen an den Schauplätzen und setzten ihre Waffen gegen die Belagerten ein: Schusswaffen, Handgranaten und Maschinengewehre. Typischerweise forderten die Angreifer zunächst die Hutu, die auch an den entsprechenden Plätzen Schutz ge-funden hatten, auf, sich zu entfernen. Tutsi war dies nicht erlaubt. Dann warfen die Angreifer zu Beginn solcher Massaker einige Handgranaten in die Menge der Belagerten. Darauf folgte der Ein-satz von Handfeuerwaffen. Flüchtende wurden erschossen oder erschlagen. Anschließend rückten Milizionäre vor und töteten noch lebende Opfer mit Hiebwaffen. Zu dieser Art von Verbrechen ge-hört das Massaker von Nyarubuye. Nach Aussagen von Zeugen waren die meisten der Tutsi-Zufluchtsorte bis zum 21. April 1994 eingenommen. Die Zahl der Opfer wird bis zu diesem Zeitpunkt auf 250.000 geschätzt. Die regionale Verteilung der Gewalttaten an Tutsi hing mit politischen und historischen Gegebenheiten zusammen. Die an Uganda angrenzende Präfektur Byumba befand sich zu Beginn des Völkermords bereits teilweise unter Kontrolle der RPF. Die Rebellenarmee eroberte rasch den Rest dieses Landstrichs, sodass Massaker an Tutsi hier kaum vorkamen. Tutsi, die in den beiden nordwestlichen Präfekturen Ruhengeri und Gisenyi – den Hochburgen des Habyarimana-Regimes – beheimatet waren, hatten diese Gebiete bereits vor dem Völkermord aufgrund von früheren Dro-hungen und Gewalttaten verlassen. Darum waren diese Gebiete nur unterdurchschnittlich von Massa-kern betroffen. Die Führung der Präfektur in Gitarama lag anfänglich noch in den Händen der Hutu-Opposition. Erst als Militäreinheiten und Milizen aus anderen Landesteilen in dieser Region eintrafen, begannen ab dem 21. April 1994 umfangreiche Massaker an Tutsi. In der südruandischen Region Butare war ein Tutsi Präfekt. Er widersetzte sich dem Eindringen von Milizen. Am 18. April wurde er abgesetzt und die Massentötungen begannen.


Weisungen

 

Auf vier Wegen erreichten Weisungen und Aufforderungen zum Töten die unteren Ränge der Hierarchien und die Bevölkerung. Im Militär galt die etablierte Struktur von Befehl und Gehorsam. Die Übergangsregierung nutzte einen zweiten Kanal, die traditionellen Verwaltungswege über die Präfekten, Unterpräfekten, Bürgermeister, Gemeinderäte und Dorfvorsteher. Die Verwaltungs-angehörigen forderten ihrerseits die Zivilbevölkerung auf, sich am Morden zu beteiligen. Diese Aufforderung wurde häufig als kommunale Gemeinschaftsarbeit (umuganda) deklariert, die in Ruanda eine lange Tradition besaß.  Sofern sich die entsprechenden Personen den Mordplänen verweigerten, wurden sie abgesetzt, in einigen Fällen auch selbst ermordet. Parteiführer, die den jeweiligen extre-mistischen Hutu-Power-Flügeln angehörten, griffen auf einen dritten Kommunikationsweg zurück. Sie nutzen die Parteiapparate, um auf lokaler Ebene zur Tötung der Tutsi aufzufordern. Eine vierte Kommunikationsstruktur lief vom Kommandozentrum der „zivilen Selbstverteidigung“, das bei Bagosora angesiedelt war, hin zu den lokalen Gliederungen dieser Struktur. Dieser Weisungslinie gehörten Militärs an, die ähnlich wie Bagosora selbst einen politischen Hintergrund hatten. Die Grenze der lokalen Gremien und Aktionsgruppen der „zivilen Selbstverteidigung“ verlief dabei nicht trennscharf zu den Milizen. Nicht immer wurde die Hierarchie in den Kommunikationslinien streng eingehalten. Untergebene, die auf eine radikalere Vorgehensweise gegen Tutsi drängten, konnten sich im Zweifel gegen abwartende oder hinhaltende Vorgesetzte durchsetzen. Auch das Verhältnis zu den mordenden Milizen unterschied sich von Fall zu Fall. Einige wurden vom Militär, andere von Parteifunktionären oder von Verwaltungsbeamten dirigiert. Vielfach handelten die Milizen auch autonom oder setzten ihrerseits Angehörige der Verwaltung unter Druck, bei der Vernichtung der Tutsi nicht zu zögern. Neben diesen Kommunikationskanälen spielten die Hörfunksender Radio Rwanda und vor allem RTLM eine wichtige Rolle bei der Aufstachelung der Hutu.

 

Génocidaires

Schätzungen zur genauen Zahl der auch Génocidaires genannten Täter weichen erheblich vonein-ander ab. Einzelne Studien gehen von einigen Zehntausend Tätern aus, andere Autoren sprechen von drei Millionen. Vielfach basieren diese Angaben auf Spekulationen. Eine 2006 veröffentlichte empi-rische Studie schätzt die Zahl der Täter, die einen oder mehrere Morde begingen, auf 175.000 bis 210.000. Das entspricht einem Anteil von etwa sieben bis acht Prozent der damaligen erwachsenen Hutu beziehungsweise 14 bis 17 Prozent der männlichen erwachsenen Hutu. Im Jahr 2000 waren in Ruanda 110.000 Personen inhaftiert, denen Völkermorddelikte vorgeworfen werden, 1997 hatte diese Zahl den Spitzenwert von 140.000 Personen erreicht. 2006 wurden etwa 80.000 Inhaftierte gezählt.

 

Die Täter waren mit überwältigender Mehrheit Männer. Der Anteil der Frauen lag bei etwa drei Prozent. Pauline Nyiramasuhuko, Ministerin für Familie und Frauen, war am Völkermord in Ruanda maßgeblich beteiligt. Sie hielt über den staatlichen Radiosender Radio Rwanda aufstachelnde Reden, hetzte Hutu-Milizen in Butare auf Flüchtlinge, rief zur Massenvergewaltigung von Tutsi-Frauen auf und wählte dabei einige der Opfer persönlich aus. Sie ist die erste Frau, die wegen Völkermord und Vergewaltigung als Verbrechen gegen die Menschlichkeit verurteilt wurde.

 

Täter kamen aus allen Teilen der Bevölkerung. An der Spitze standen Personen mit Macht und Einfluss im Militär, in der Politik sowie in der Verwaltung. Das traf auf die nationale und auf die lokale Ebene zu. Von ihrer Anzahl her waren diese Eliten wenig bedeutend. Das Gros der Génoci-daires setzte sich aus gewöhnlichen ruandischen Männern zusammen. Sie unterschieden sich hin-sichtlich ihrer Bildung, ihres Berufs, ihres Alters und der Anzahl ihrer Kinder nicht vom Bevöl-kerungsdurchschnitt. Täteranalysen deuten an, dass die gewaltsamsten unter ihnen junge, unter-durchschnittlich gebildete Männer waren mit wenigen oder keinen Kindern. Zugleich zeigen sie, dass die lokalen Initiatoren von Völkermordaktionen zur lokalen Elite gehörten. Diese Personengruppe war sehr gut in das lokale Gemeinwesen integriert und besaß eine überdurchschnittliche Bildung.

 

Unterschiedliche Motive trieben die Génocidaires an. Der nach Aussagen der Täter wichtigste Beweggrund für die Beteiligung einzelner Hutu am Völkermord war Furcht. Viele Täter geben rück-blickend an, dass sie soziale, materielle oder physische Repressalien fürchteten, falls sie sich nicht an Mordtaten beteiligen würden. Des Weiteren spielte die Angst vor Gewalttaten der Tutsi eine Rolle. Die Tutsi wurden als Komplizen der RPF-Rebellen betrachtet. Im Bürgerkrieg mit der Rebellenarmee habe es gegolten, den „Feind“ anzugreifen und zu töten, um nicht selbst getötet zu werden. Zugleich seien die eigenen Gewalttaten als Rache für die Ermordung Habyarimanas zu verstehen gewesen – die RPF beziehungsweise die Tutsi insgesamt galten als die Attentäter des Präsidenten. Wichtig war ferner, dass diese Gewalt von den Behörden eingefordert und gutgeheißen wurde. Töten galt als Pflichterfüllung. Andere Motive sind ebenfalls erkennbar, sie hatten jedoch eine geringere Bedeutung für die konkrete Bereitschaft des Einzelnen, am Völkermord teilzunehmen. Zu diesen nachrangigen Motiven gehören beispielsweise tief verwurzelte Abneigungen gegenüber den Tutsi bis hin zu offen rassistischen Antrieben. Eine Reihe von Tätern erhoffte sich ferner mate-rielle Vorteile durch Plünderungen.

 

Tötungsformen

 In den ersten Tagen des Völkermords waren Einzelerschießungen prominenter Tutsi und bekannter Hutu-Oppositioneller an der Tagesordnung. Eine weitere Form der Tötung kam in den ersten Wochen des Genozids zum Einsatz – große Ansammlungen von Tutsi wurden massakriert. Die Täter setzten außerdem im ganzen Land Straßenblockaden ein, um Ruander auf der Flucht kontrollieren zu können. An diesen Barrikaden wurden Tutsi und Personen, die verdächtigt wurden, Tutsi zu sein beziehung-sweise ihnen zu helfen, ermordet. Patrouillen und Menschenjagden ergänzten diese Strategie der Suche nach und Vernichtung von Opfern. Vielfach gingen den Tötungsakten andere Formen der Gewalt voraus, wie Plünderungen, sexuelle Demütigungen, Vergewaltigungen, Verstümmelungen oder Folterpraktiken. Die Täter warfen die Leichen in Flüsse oder Seen, beseitigten sie in Massengräbern, stapelten sie am Straßenrand oder ließen sie am Tatort liegen. Einige Täter trennten die Körperteile ihrer Opfer nach und nach ab, um ihnen lang anhaltende und große Schmerzen zuzufügen. Eine ver-breitete Foltermethode gegen Tutsi war das Abhacken von Händen und Füßen. Dahinter stand nicht allein die Absicht, Fluchtversuche zu erschweren, sondern auch der Gedanke des „Zurechtstutzens“ groß gewachsener Menschen. Teilweise wurden Opfer gezwungen, ihre eigenen Ehepartner oder Kinder umzubringen. Kinder wurden vor den Augen ihrer Eltern erschlagen. Blutsverwandte wurden von Tätern zum Inzest untereinander gezwungen. Menschen wurden gepfählt oder zum Kannibalismus genötigt. Größere Menschenmengen wurden häufig zusammengetrieben und in Gebäuden lebendig verbrannt oder mit Hilfe von Handgranaten getötet. Oft mussten sich die Opfer vor ihrer eigenen Tötung nackt ausziehen. Dies sollte sie demütigen, außerdem war die Kleidung für die Mörder so weiter verwendbar. In vielen Fällen wurden auch Beisetzungen bereits getöteter Tutsi verhindert. Abgesehen davon, dass dies den ruandischen Brauch eines würdevollen Umgangs mit Toten verletzte, wurden die Leichen auf diese Weise Tieren zum Fraß überlassen. Hiebwaffen waren die wichtigsten Tatwaffen während des Völkermordes. Nach der offiziellen Statistik der ruandischen Regierung über den Völkermord von 1994 sind 37,9 Prozent der Opfer mit Macheten getötet worden. Die Macheten wurden bereits 1993 in großem Stil aus dem Ausland importiert, waren kostengünstig sowie einfach zu handhaben. 16,8 Prozent wurden mit Keulen erschlagen. Für die Provinz Kibuye wurde ein noch höherer Prozentsatz von Tötungen mit solchen Waffen nachgewiesen. In diesem Landesteil starben 52,8 Prozent der Genozidopfer durch Macheten. Weitere 16,8 Prozent wurden mit Knüppeln ermordet.

 

Überlebensstrategien und Überlebenschancen

Tutsi haben überlebt, weil es ihnen gelang, außer Landes zu fliehen, oder weil sie sich innerhalb Ruandas vor den Mördern verbargen. Dazu nutzten sie unzugängliche Regionen wie Waldgebiete oder Sümpfe. Auch Erdlöcher, Keller oder Dachböden dienten als Verstecke. Vielfach wurde ihnen dabei von Hutu geholfen, von Freunden und Unbekannten. Um zu überleben, zahlten viele Bedrängte an die Täter teils mehrfach Geld oder fügten sich in sexuelle Nötigungen.

 

Die Überlebenschancen bedrohter Tutsi und moderater Hutu erhöhten sich, wenn sie sich in der Nähe von ausländischen Beobachtern aufhielten. Dies traf beispielsweise für das Hôtel des Mille Collines in Kigali zu. Paul Rusesabagina, der Direktor dieses Hotels, nutzte seine Kontakte zu ruan-dischen Politikern und Militärs, mobilisierte den Einfluss der belgischen Hotelbesitzer und schickte Faxe ins Ausland, um mehrfach erfolgreich die drohende Erstürmung der Hotelanlage zu verhindern. Auf diese Weise rettete er 1268 Eingeschlossenen das Leben. Das UNAMIR-Hauptquartier blieb in den Tagen des Völkermords ein Gebäude des Amahoro-Komplexes in Kigali, zu dem ein großes Stadion gehörte. In diese Sportstätte flüchteten sich Tausende, sie überlebten dank der internationalen Präsenz. Im Südwesten des Landes, in der Präfektur Cyangugu, sammelten sich ebenfalls viele Flüchtlinge im Kamarampaka-Stadion, um der Gewalt zu entgehen. Hier hatte das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) einen Stützpunkt, ebenso im Lager Nyarushishi.

 

Tutsi hatten die größten Überlebenschancen, wenn die RPF den Landstrich eroberte, in dem sie sich aufhielten. Sobald die Rebellenarmee in einer Region die Macht übernahm, hörten die Völker-mordaktionen auf. Nur in entlegenen Gegenden, die nicht sofort von Truppenverbänden der RPF kontrolliert wurden, gab es jeweils noch einige weitere Tage lang genozidale Akte.

 

Widerstand

Der Völkermord war kein Gemeinschaftswerk aller Hutu. Einzelne Hutu versuchten, sich ihm zu entziehen, oder leisteten Widerstand. Die Formen dieses Nonkonformismus waren vielfältig. Sie reichten von der Flucht vor der Gewalt und den Aufforderungen zum Mitmachen über individuelle Hilfe für bedrohte Tutsi bis hin zu Versuchen, den Beginn des Völkermords im Land oder in einzelnen Landesteilen systematisch zu unterbinden.

 

Im ruandischen Militär bemühte sich anfänglich eine Gruppe ranghoher Militärs um Oberst Marcel Gatsinzi und Oberst Léonidas Rusatira, den ausbrechenden Gewalttaten Einhalt zu gebieten, sie gaben entsprechende Befehle. Diese Anweisungen sowie ein von ihnen erstelltes Kommuniqué vom 13. April 1994 blieben allerdings wirkungslos, weil die Streitkräfte sich bereits überwiegend in der Hand der extremistischen Hutu-Offiziere befanden. Militärs, die gegen den Völkermord opponierten, wurden mit Angriffen auf Leib und Leben bedroht, ihre Kommandos wurden umgangen. Gatsinzi und Rusatira verloren beispielsweise rasch ihre Posten an extremistische Hutu-Militärs.

 

Auch in der Verwaltung opponierten einflussreiche Personen gegen den Beginn des Völkermords. Den Präfekten von Gitarama und Butare, Fidèle Uwizeye beziehungsweise Jean-Baptiste Habyalimana, gelang es, in den ersten Tagen die Gewalt gegen Tutsi weitgehend zu verhindern, indem sie im Zusam-menspiel mit zuverlässigen Bürgermeistern und weiteren Verwaltungsmitarbeitern ihrer Präfekturen das Eindringen von Milizen aus anderen Landesteilen unterbanden und die ersten Gewalttaten gegen Tutsi – wie Plünderungen oder einzelne Morde – sofort bestraften. Nachdem die Regierung am 12. April 1994 von Kigali nach Gitarama geflüchtet war, brach in Gitarama der Widerstand gegen den Völkermord zusammen, denn die Regierung wurde von bewaffneten Einheiten wie der Präsiden-tengarde und der Interahamwe begleitet. Diese Verbände setzten die lokale Verwaltung unter Druck und stachelten die Bevölkerung zum Völkermord auf, an dem sie sich selbst führend beteiligten. Nachdem die zum Völkermord bereiten Kräfte die Übermacht erlangt hatten und Widerstands-versuche erfolglos geblieben waren, floh Uwizeye. Jean-Baptiste Habyalimana, der einzige Präfekt aus den Reihen der Tutsi, nutzte bis Mitte April in Butare seine Stellung, um gegen Versuche vorzugehen, den Tutsi in dieser Südprovinz Gewalt anzutun. Er stützte sich auf loyale National-polizisten und Bürgermeister, die sich einer zunehmenden Macht von Militäroffizieren, Milizionären und aus Burundi geflüchteten Hutu gegenübersahen, die den Völkermord befürworteten. Am 17. April wurde Habyalimana seines Amtes enthoben, später inhaftiert und exekutiert.

 

Für viele Orte Ruandas ist Widerstand von Tutsi verbürgt. Gelegentlich entwickelten die Bedrohten gezielte Strategien, um die Angriffe besser abwehren zu können oder um die Überlebens-wahrscheinlichkeit bei Massenfluchten zu erhöhen. Eine Abwehrstrategie nannte sich kiwunga (verschmelzen). Die Attackierten legten sich dabei auf den Boden. Erst wenn die Angreifer unter ihnen waren, sprangen die Tutsi auf, um die Täter im Nahkampf zu stellen. Diese scheuten in dieser Situation den Einsatz von Handfeuerwaffen oder Granaten, weil sie Opfer durch den Beschuss durch eigene Leute befürchteten. An einigen Orten teilten sich angegriffene Tutsi in Gruppen und flüch-teten zu verschiedenen Zeiten und in verschiedene Richtungen. In Bisesero nahe Kibuye verteidigten sich Tutsi lange Zeit, indem sie sich auf einen bewaldeten und steinigen Hügelkamm flüchteten. Dort versteckten sie sich und warfen Steine auf die Angreifer. Die Abwehr erfolgte koordiniert; Tutsi, die sich nicht an der Verteidigung beteiligen wollten, wurden von anderen mit Schlägen dazu ge-zwungen. Erst als Armeeeinheiten die Angreifer verstärkten, wurde der Widerstand gebrochen und Zehntausende von Tutsi ermordet, nur etwa 1500 Tutsi überlebten das Massaker.

 

Rolle der Twa

Studien zum Genozid behandeln die Rolle der Twa kaum. Dies ist wesentlich durch den geringen Anteil der Twa an der Gesamtbevölkerung Ruandas bedingt. Er liegt bei unter einem Prozent, zirka 30.000 Personen wurden vor April 1994 zur Ethnie der Twa gezählt. Hinzu kommt ihr niedriger sozialer Status als indigenes Volk.

Schätzungen besagen, dass etwa ein Drittel der Twa während des Völkermords in Ruanda umkam und ein weiteres Drittel ins Ausland floh. Die Twa waren nicht nur Opfer, Angehörige dieser Gruppe haben sich auch den Milizen angeschlossen. Der Umfang ihrer Beteiligung am Genozid ist jedoch nicht bekannt

 

Erneuter Bürgerkrieg

 Der Abschuss der Präsidentenmaschine war das Fanal für den Beginn des Völkermords und zugleich der Anlass für den erneuten Ausbruch des Bürgerkriegs zwischen den Regierungstruppen und der Rebellenarmee RPF. Entsprechend dem Arusha-Abkommen hatte sich ein Bataillon von 600 Soldaten der RPF im Nationalratsgebäude in Kigali einquartiert. Heimlich verstärkten die Rebellen diese Ein-heit vor dem 6. April 1994 nach und nach auf zirka 1000 Mann. Das Bataillon wurde in den ersten Stunden nach dem Attentat auf Habyarimana von Regierungstruppen unter Feuer genommen, hielt jedoch die Stellung, bis am 11. April 1994 weitere RPF-Verbände in die ruandische Hauptstadt ein-marschierten.

 

Unter der militärischen Führung von Paul Kagame startete die Rebellenarmee von ihrem Haupt-standort im Norden Ruandas aus eine Offensive. Das militärische Vorgehen der Rebellen führte im April 1994 zunächst zur raschen Eroberung der Präfekturen Byumba und Kibungo. Ebenfalls im April begannen die Rebellen mit dem Angriff auf Kigali aus nördlicher und östlicher Richtung. Der Druck dieser Militäroffensive zwang die Regierung am 12. April zur Flucht aus der Hauptstadt nach Gitarama, der nächsten größeren Stadt westlich von Kigali. Tausende Zivilisten schlossen sich dieser Flucht an. Regierungstreue Armeeeinheiten blieben in Kigali, während die Rebellenarmee versuchte, die Hauptstadt einzukreisen und zu belagern. Im Mai griffen RPF-Einheiten, die aus Kigali und der Präfektur Kibungo herangeführt wurden, Gitarama an. Am 9. Juni 1994 begann ihr Einmarsch in diese Stadt. Nach diesem Erfolg rückten sie in südlicher Richtung vor und eroberten bis Anfang Juli die an Burundi angrenzende Präfektur Butare. Am 4. Juli zogen die Regierungstruppen aus Kigali Richtung Westen ab, erneut begleitet von Tausenden von Zivilisten, die Hauptstadt fiel an die Rebellen. Ber-eits im April hatte die RPF den Versuch unternommen, auf Ruhengeri vorzurücken. Dieser Vormarsch stockte, vor allem weil die Hauptstreitkräfte der Rebellen in der Schlacht um Kigali und für Militär-aktionen im Osten des Landes verwendet wurden. Erst im Juli, nach den militärischen Erfolgen in der Mitte und im Süden des Landes, war die RPF im Norden Ruandas siegreich und nahm am 14. Juli 1994 Ruhengeri sowie drei Tage darauf Gisenyi ein. Der Vormarsch der Rebellen in den Südwesten des Landes wurde zunächst durch französische Interventionstruppen gestoppt, die in diesem Landesteil eine Sicherheitszone errichteten.

 

Der Sieg der RPF beendete den Bürgerkrieg und den Völkermord. Viele Täter und die Mitglieder der Regierung setzten sich ins Ausland ab. Der RPF gelang der Sieg, obwohl sie den Regierungstruppen zahlenmäßig unterlegen war. Für Anfang April wird die Truppenstärke der RPF mit 20.000 bis 25.000 Mann angegeben. Die Zahl ihrer Gegner – Regierungssoldaten, Angehörige der Präsidentengarde, Nationalpolizisten und Milizen – wird auf 55.000 bis 70.000 Mann geschätzt. Die RPF machte ihren quantitativen Nachteil durch ihre überdurchschnittlich gute militärische Disziplin und Effizienz wett. Zudem fehlte der Hutu-Regierung die militärische Unterstützung durch Frankreich, die Anfang 1993 noch einmal den Sieg der RPF abgewendet hatte. Bereits 1993 kamen Studien der tansanischen und französischen Militärgeheimdienste zu dem Schluss, dass die RPF den Regierungseinheiten deut-lich überlegen sei.

 

Das Ziel der militärischen Bemühungen der RPF war der Sieg über die Regierungstruppen, nicht nur die Rettung der Tutsi. Der kanadische UN-General Roméo Dallaire fragt in seinem Bericht über den Völkermord in Ruanda nach den Prioritäten der RPF. Seiner Ansicht nach ist es nicht ausgeschlossen, dass Paul Kagame den Völkermord in Kauf nahm, um an die Macht zu kommen.

 

Internationale Reaktionen

Ein Kernelement des Arusha-Abkommens bestand in der Aufstellung von UN-Friedenstruppen in Ruanda. Der kanadische General Roméo Dallaire befehligte ab Oktober 1993 die UNAMIR, die von Beginn an mit erheblichen Problemen kämpfte. RTLM unterstellte dem belgischen Kontingent der UNAMIR, auf Seiten der Rebellen zu stehen. Der Großteil der Blauhelmtruppe, die Ende März 1994 eine Stärke von zirka 2500 Mann erreichte, waren Soldaten aus Ghana und Bangladesch. Die militä-rischen Fähigkeiten und Ressourcen insbesondere der Bengalen erwiesen sich in den kommenden Monaten oft als unzureichend. Die Finanzierung der Truppe war über lange Monate ungesichert. Eine weitere Schwierigkeit lag im Mandat. Die UNAMIR hatte einen Auftrag nach Kapitel VI der Charta der Vereinten Nationen. Allein die Förderung des Friedens, eine sogenannte Friedensmission, war möglich, nicht die Erzwingung des Friedens gegen eine oder mehrere Kriegsparteien – ein solches Vorgehen hätte ein Mandat nach Kapitel VII der Charta erfordert. Den UNAMIR-Soldaten war der Einsatz von Waffen nur im äußersten Notfall zur Selbstverteidigung gestattet.

 

Im Januar 1994 erhielt Dallaire Kenntnis von geheimen Waffenlagern, von Todeslisten, von geplanten Angriffen auf die belgischen UNAMIR-Soldaten sowie von der gezielten Torpedierung des Arusha-Friedensprozesses und von geplanten Massentötungen in den folgenden drei Monaten. Er informierte am 11. Januar seine Vorgesetzten in der UN-Zentrale darüber per Fax. Verantwortlich für UN-Aus-landseinsätze war zu diesem Zeitpunkt der spätere Generalsekretär der Vereinten Nationen und Friedensnobelpreisträger Kofi Annan. Dessen Büro wies Dallaire ausdrücklich an, das Mandat nach Kapitel VI eng auszulegen und die Waffenverstecke nicht auszuheben, sondern das Gespräch mit Präsident Habyarimana zu suchen. Auch weitere Warnungen des UNAMIR-Befehlshabers[103] sowie seine Bitten um eine Stärkung des Mandats und um bessere Ausrüstung der UNAMIR blieben ohne Wirkung. Dallaire warf Kofi Annan später Mitschuld am Völkermord vor. Ein Artikel vom 3. Mai 1998 in The New Yorker legt nahe, dass Annan die wiederholten Hilfsersuche und Berichte aus Ruanda über den bevorstehenden Völkermord zurückgehalten und nicht an den UN-Sicherheitsrat weiter-geleitet habe.

 

Nach dem Ausbruch der Gewalt, insbesondere als Reaktion auf die Tötung der zehn belgischen UNAMIR-Soldaten, reduzierte die UN ihre Blauhelmtruppe von zirka 2500 Mann auf 270 Soldaten. Insbesondere der vollständige Abzug der Belgier war laut Dallaire ein schwerer Schlag für die UNAMIR. Weil ein Teil der Blauhelme nicht ausgeflogen werden konnte, verblieben jedoch 540 Mann vor Ort. Ruander, die in der Nähe von Blauhelmtruppen Schutz gesucht hatten, fielen nach dem Abzug ihren Mördern in die Hände. Das bekannteste Beispiel dafür ist das Massaker an der École Technique Officielle in Kigali. Unmittelbar nach dem Rückzug von 90 Belgiern töteten Milizionäre und Angehörige der ruandischen Armee etwa 2000 Menschen, die in dieser Schule Zuflucht gesucht hatten. Kritiker des UN-Abzuges sehen in diesem einerseits die Beseitigung des letzten Schutzes für die Bedrängten, andererseits einen Freibrief für die Täter zur Fortsetzung des Völkermords.

 

Frankreich und Belgien organisierten mit Unterstützung durch Italien und die Vereinigten Staaten die Evakuierungsaktion Opération Amaryllis. Belgische und französische Elitetruppen brachten dabei vom 8. bis zum 14. April 1994 zirka 4000 Ausländer in Sicherheit, nicht jedoch Ruander, die bei aus-ländischen Institutionen angestellt waren und bereits bedroht wurden. Deutsche Kapazitäten zur Evakuierung waren nicht verfügbar. Dies wurde als Hauptursache für die Gründung des Kommando Spezialkräfte angesehen.

 

Trotz der zunehmenden Informationsdichte über das Ausmaß der Gewalttaten vermied es die amerikanische Regierung bewusst, von einem Völkermord zu sprechen. Wären die Geschehnisse so bezeichnet worden, wäre die internationale Gemeinschaft gemäß der UN-Konvention über die Ver-hütung und Bestrafung des Völkermordes zwingend zum Handeln verpflichtet gewesen. Stattdessen sprachen Vertreter der US-Regierung von „Chaos“ oder von möglichen „genozidalen Akten“. Die Wahl dieser Begrifflichkeit hing mit den nur wenige Monate zuvor gemachten Erfahrungen während der UNOSOM II zusammen, die als bewaffnete humanitäre Aktion in Somalia Anfang Oktober 1993 gescheitert war. Nachdem 18 US-Soldaten bei dieser Mission getötet worden waren und die Bilder der Schändung ihrer Leichen weltweit im Fernsehen zu sehen gewesen waren, war die Bereitschaft der USA, in Schwarz-Afrika erneut eine humanitäre Mission zu starten, nicht gegeben. Verfestigt wurde dies durch eine Presidential Directive (PDD 25) von 1993. Ruanda galt überdies als Land ohne strategischen Wert.

 

Der damalige Generalsekretär der Vereinten Nationen, Boutros Boutros-Ghali, wählte ebenfalls undeutliche Formulierungen. Am 20. April 1994 sprach er von einem Volk, das in „verhängnisvolle Umstände geraten“ sei. Zu diesem Zeitpunkt nannten Menschenrechtsorganisationen wie Human Rights Watch und die Fédération Internationale des Ligues des Droits de l'Homme die Ereignisse bereits ausdrücklich Völkermord.

 

Zufälligerweise hatte Ruanda in den Wochen des Genozids als nichtständiges Mitglied einen Sitz im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen. Die Regierung Ruandas war damit über die Diskussionen und Stimmungen in diesem Gremium aus erster Hand informiert. Am 16. Mai 1994 nahmen Vertreter der ruandischen Regierung an einer Sitzung des Sicherheitsrates teil. Von den 14 übrigen Mitgliedern kritisierte nur eine Minderheit die Vertreter Ruandas für die exzessiven Gewalttaten. Die für den Völkermord verantwortliche Regierung konnte aus diesem Verhalten schließen, dass dem Sicher-heitsrat keine klaren Informationen vorlagen und er sich nicht zu klaren Worten entschließen würde.

 

Von Ende April bis Mitte Mai 1994 setzte ein Stimmungsumschwung ein, nachdem immer häufiger Fernsehberichte Flüchtlinge zeigten, die massenhaft aus Ruanda ins westliche Nachbarland Zaire flohen. Dieser Flüchtlingsstrom setzte sich aus Hutu zusammen, die vor den anrückenden RPF-Ein-heiten zurückwichen. Die Sorge vor Vergeltung, die von den Radiosendern massiv geschürt wurde, trieb sie dazu an. Zugleich zwangen Hutu-Milizen diese Flüchtlinge dazu, ihnen als menschlicher Schutzschild zu dienen. Am 17. Mai beschloss der UN-Sicherheitsrat den Einsatz von UNAMIR II. Diese Truppe sollte 5500 Mann umfassen und mit einem robusteren Mandat als die Vorgängertruppe ausgestattet sein, das den militärischen Schutz bedrohter Zivilisten gestattete. Trotz dieses Beschlusses verzögerte sich die Aufstellung der geforderten Truppen und die Bereitstellung des notwendigen militärischen Materials. Als die RPF Mitte Juli den Bürgerkrieg gewonnen hatte, war immer noch ungefähr die gleiche Anzahl von Blauhelm-Soldaten in Ruanda wie unmittelbar nach der Truppenreduzierung.

 

Vor diesem Hintergrund ergriff Frankreich die Initiative und stellte sich an die Spitze der Opération Turquoise. Diese humanitäre Intervention war gestützt auf Kapitel VII der UN-Charta und führte ab dem 24. Juni 1994 zur Bildung und Aufrechterhaltung einer Sicherheitszone im Süd-westen Ruandas. In diesem Gebiet, das etwa ein Fünftel Ruandas ausmachte, ballten sich die Hutu-Flüchtlinge. Erklärter Zweck war der Schutz der Zivilisten innerhalb dieser Zone sowie die Förde-rung der Verteilung von Hilfsgütern durch Hilfsorganisationen. Die Operation stieß, obwohl sie vielen Zivilisten Sicherheit brachte, von Beginn an auf Kritik. Die RPF sah in dieser Maßnahme die Fort-setzung des Versuchs Frankreichs, die alte Regierung Ruandas zu stützen und den Sieg der RPF zu vereiteln. Diese Sichtweise wurde dadurch gefördert, dass extremistische Hutu den Einmarsch der Franzosen euphorisch begrüßten und versuchten, sie zum Kampf gegen die Rebellen zu animieren. Die Interventionstruppe entwaffnete die Hutu-Milizen nicht und wirkte einer Flucht von Tätern und Regierungsangehörigen ins Ausland nicht entgegen. Auch dies förderte die Kritik an der Politik Frankreichs. Am 21. August 1994 übergaben die Franzosen die Zone der nunmehr personell gestärk-ten UNAMIR II.

 

2010 räumte der französische Präsident Nicolas Sarkozy mit Blick auf den Völkermord 1994 in Ruanda schwere Fehler seines Landes ein. „Es hat eine Form von Blindheit gegeben, wir haben die Dimension des Völkermords nicht wahrgenommen“.

 

2014 berichteten deutsche Medien über eine mögliche Kenntnis deutscher Behörden von den Vor-bereitungen des Völkermords. Ein Bundeswehroffizier, damals Mitglied einer Militärberater-Mission, habe das Bundesverteidigungsministerium vor möglichen Massakern gewarnt. Geschehen sei darauf-hin nichts. Auch der deutsche Botschafter in Ruanda habe Informationen über die Gefahr einer Gewalteskalation ignoriert.

 

Flüchtlingskrise

Der Völkermord destabilisierte die gesamte Region der Großen Afrikanischen Seen. Mehr als zwei Millionen Ruander flohen außer Landes. Als Reaktion auf diese Flüchtlingsströme, auf die Ausbreitung von Seuchen und eine sehr hohe Sterblichkeit in den Flüchtlingslagern setzte eine umfassende inter-nationale Hilfsaktion ein. Schwerpunkt waren dabei die Lager in Ostzaire, nahe der Stadt Goma. Hier lebten die meisten Flüchtlinge. In diesen grenznahen Lagern übernahmen extremistische Hutu rasch die Macht. Sie bauten die Camps zu Basen für die Wiedereroberung Ruandas aus, ohne dass diesem Missbrauch durch Hilfsorganisationen oder UN-Einrichtungen effektiv widersprochen worden wäre. Extremistische Politiker, ehemalige Verwaltungsangestellte, Soldaten und Milizionäre zwangen die zivile Flüchtlingsbevölkerung, diesen Missbrauch zu decken. Die fortgesetzte politische Aufwie-gelung gegen Tutsi und moderate Hutu, die Kontrolle der Hilfsgüterverteilung, die Beschaffung von Waffen für den Wiedereinmarsch in Ruanda, die Rekrutierung von neuen Kämpfern aus den Reihen der Flüchtlinge und die Etablierung militärischer Trainingscamps gehörten in diesen Lagern zum Alltag. Nach einer Reihe von Sabotageakten in Ruanda aus diesen Lagern heraus sowie nach der mas-siven Bedrohung der Banyamulenge, die als eine den Tutsi nahestehende Ethnie seit Generationen in Ostzaire lebten, wurden diese Lager ab Ende 1996 durch eine gemeinsame Aktion von Verbänden der Banyamulenge, der neuen ruandischen Armee und Militäreinheiten aus Uganda aufgelöst. Ungefähr 500.000 Flüchtlinge gingen zurück nach Ruanda und entzogen sich auf diese Weise dem Einfluss der extremistischen Hutu. Die Milizen und von ihnen dominierte Flüchtlingsgruppen, zusammen etwa 300.000 bis 350.000 Personen, zogen weiter ins Inland von Zaire. Diese Ereignisse bildeten zugleich den Auftakt des ersten Kongokrieges. Zur gleichen Zeit kehrten auch zirka 500.000 Flüchtlinge aus Tansania nach Ruanda zurück.

 

Die Situation in den ostkongolesischen Provinzen Nord-Kivu und Süd-Kivu ist seit Jahren instabil. Zum Jahresende 2007 waren dort zirka 600.000 bis 800.000 Menschen auf der Flucht vor den Aus-einandersetzungen der Forces Démocratiques de la Libération du Rwanda, einer etwa 6000 Mann starken Truppe aus Génocidaires und weiteren Hutu auf der einen Seite sowie einer 4000 bis 6000 Mann starken Tutsi-Kampfgruppe um Laurent Nkunda, die angeblich von Ruanda unterstützt wird, auf der anderen Seite.

 

Vergewaltigungsopfer

 Die genaue Zahl der Frauen und Mädchen, die während des Völkermords in Ruanda vergewaltigt wurden, ist nicht bekannt. Nach Angaben von UNICEF wird die Zahl der vergewaltigten Mädchen und Frauen auf 250.000 bis 500.000 geschätzt. Die betroffenen Frauen leiden häufig unter sozialer Ächtung, denn auch in Ruanda gelten solche Taten zugleich als persönliche Schande der Opfer. Viele vergewaltigte Frauen sind durch die sexuellen Gewalttaten Mütter geworden – Schätzungen gehen von 2000 bis 5000 Fällen aus. Ein hoher Prozentsatz der Vergewaltigten ist HIV-positiv. Die Be-handlung von vergewaltigten Frauen, die an AIDS erkrankt sind, scheitert oft an den Kosten für die entsprechenden Medikamente. Personen, die auf Grund des Völkermords interniert sind, werden dagegen behandelt, weil entsprechende Ressourcen bereitgestellt werden.

 

Haushalte ohne Erwachsene

1999 gab es in Ruanda schätzungsweise 45.000 bis 60.000 Haushalte, denen Minderjährige vor-standen. Zirka 300.000 Kinder lebten in solchen Haushalten, von denen knapp 90 Prozent von Mädchen geführt wurden, die über kein reguläres Einkommen verfügten. Die Kinder erhielten kaum Hilfen, sondern wurden weitgehend sich selbst überlassen, ohne dass sie in der Lage gewesen wären, die Befriedigung ihrer Grundbedürfnisse sicherzustellen. Die Ausbreitung von AIDS, die durch die Vergewaltigungen während des Völkermords einen Schub erfuhr, machte 160.000 Kinder zu Waisen. Ein Anwachsen dieser Zahl ist zu erwarten. Allein für Kigali wird der Anteil der schwangeren Frauen, die mit HIV infiziert sind, auf 30 Prozent geschätzt. Unmittelbar nach dem Völkermord lag der Frauenanteil in Ruanda durch die Ermordung, Flucht oder Verhaftung von Männern bei zirka 70 Prozent. Unter dem Aspekt der höheren Frauenquote wird der Völkermord in speziellen Publikationen deshalb auch als Gendercide bezeichnet. In bestimmten Gebieten Ruandas führte diese Situation zur Praxis des Männer-Sharing (kwinjira), das neben möglichen persönlichen Konflikten auch neue Gefahren in Bezug auf die Verbreitung von AIDS birgt.

 

Jugendliche Täter

Eine Besonderheit des Genozids in Ruanda ist eine große Anzahl jugendlicher Täter. Häufig waren sie über ihre eigenen Taten traumatisiert. Zirka 5000 Jugendliche wurden inhaftiert. Die zum Zeitpunkt der Ereignisse unter Vierzehnjährigen wurden bis 2001 freigelassen. Die fehlende Ausbildung, die Jahre der Haft während der Jugendzeit und der Verlust der Vorbildfunktion der Elterngeneration führen in dieser Gruppe zu einer ausgeprägten Perspektiv- und Orientierungslosigkeit. Eine Rück-führung dieser Kinder in ihre Familien ist oft problematisch. Vielfach werden sie aus ökonomischen Gründen oder aus Angst vor Repressionen abgewiesen.

 

Religion und Genozid

Ruanda galt bis 1994 als das am stärksten katholische Land in Afrika. 68 Prozent der Bevölkerung zählten vor April 1994 zur katholischen Kirche, 18 Prozent gehörten protestantischen Kirchen an. Ungefähr ein Prozent waren Muslime. Gegen alle christlichen Gemeinschaften mit Ausnahme der Zeugen Jehovas werden Vorwürfe erhoben, in den Völkermord verstrickt gewesen zu sein. In be-sonderem Maß wird der katholischen Kirche eine indirekte Mitverantwortung vorgeworfen. Sie ver-fügte über enge Beziehungen zur Machtgruppe um Habyarimana.

 

Die Vorwürfe umfassen das mehrheitliche Schweigen des Klerus zum Völkermordgeschehen, aber auch Begünstigung von und Aufruf zu Straftaten und in einigen Fällen unmittelbare Täterschaft. So wurde der katholische Priester Athanase Seromba vom Ruanda-Tribunal in erster Instanz wegen Bei-hilfe zum Völkermord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit schuldig gesprochen. Er soll 2000 Menschen in die von ihm verwaltete Kirche gelockt haben. Statt ihnen Zuflucht zu gewähren, habe er jedoch religiöse Symbole entfernt und den Befehl gegeben, das als weltlich deklarierte Gebäude mit einem Bulldozer einzureißen. Die Überlebenden wurden anschließend von Hutu-Soldaten getötet. Kirchen waren häufig Tatorte von Massakern, ohne dass Kirchenvertreter stets eine leitende Rolle gehabt hätten. Alleine in Ruanda wurden jedoch bis 2006 mehr als zwanzig Geistliche für ihre Betei-ligung am Genozid angeklagt. Andererseits schützte eine Reihe von Kirchenvertretern Verfolgte und trat der Gewalt vor Ort entgegen. Zugleich zählten mehrere Hundert Kleriker, insbesondere Tutsi und regierungskritische Priester, zu den Opfern der Gewalttaten.

 

Die Beteiligung am Genozid führte zu einem Vertrauensverlust in die etablierten Kirchen, vielen Kirchenaustritten und einer verstärkten Zuwendung zu Freikirchen und zum Islam. Eine Ausein-andersetzung mit dem Schweigen des Klerus und mit der aktiven Beteiligung einiger Kirchen-vertreter an Völkermordstraftaten hat bei den betroffenen Kirchen bislang kaum stattgefunden. Es gibt jedoch von einigen Kirchen wie den protestantischen Kirchen Ruandas Schuldbekenntnisse oder Entschuldigungen. 1996 lehnte Papst Johannes Paul II. eine Mitverantwortung der katholischen Kirche für den Völkermord ab. Die Schuld liege allein bei einzelnen Tätern aus den Reihen der Gläubigen.

 

Während des Genozids haben Muslime auffällig oft bedrohte Tutsi und Hutu beschützt. Eine umfassende Teilnahme an den Gewalttaten ist nicht bekannt, jedoch gibt es auch Beispiele von Muslimen, die zu Tätern wurden. Als Gruppe waren sie zugleich nicht das Ziel der Gewalt. Viele Ruander hielten sie nicht für Einwohner des Landes, sondern für eine Sondergruppe, die ihre Identität nicht aus dem Bezug zur geografischen Heimat, sondern aus der Gemeinschaft der Muslime herleitete. Die Rettung existenziell bedrohter Menschen und die weitgehende Verweigerung, sich am Genozid zu beteiligen, haben die Wertschätzung der Muslime im postgenozidären Ruanda nachhaltig verbessert. Sie gelten als Beispiel für die anzustrebende nichtethnische, die ruandische Identität. Der Anteil der Muslime ist seit Mitte 1994 sehr stark angestiegen und belief sich im Jahr 2006 auf ungefähr 8,2 Prozent. Eine Rolle spielt auch, durch den Übertritt zum Islam möglichen zukünftigen Gewaltausbrüchen entgehen zu können. Führende Muslime in Ruanda betrachten es als ihre Aufgabe, zur Versöhnung von Tutsi und Hutu beizutragen, und nennen diese Obliegenheit den „Dschihad“ in Ruanda. Islamischer Fundamentalismus wird in Ruanda nicht beobachtet.

 

Juristische Aufarbeitung

 

Die juristische Aufarbeitung des Völkermords findet auf drei Ebenen statt. Der Internationale Strafgerichtshof für Ruanda (ICTR) erhebt gegen den exklusiven Kreis hochrangiger Planer und Organisatoren des Völkermords Anklage. Dieses Ad-hoc-Gericht basiert auf einem Beschluss des Sicherheitsrates und führt die entsprechenden Prozesse im tansanischen Arusha. Kritiker halten dem Strafgerichtshof Ineffizienz vor. Seit der Aufnahme seiner Tätigkeit im November 1995 sprach er bis Anfang April 2014 in 75 Fällen Urteile, zwölf davon waren Freisprüche. 16 der 75 Verfahren befanden sich in der Berufung. Darüber hinaus wurden zehn Fälle an nationale Gerichte überwiesen, zwei Angeklagte verstarben vor Prozessende, zwei Anklagen wurden fallengelassen. Kritiker bemängeln, dass die Anzahl der Prozesse trotz eines durchschnittlichen Jahresbudgets von 100 Millionen US-Dollar und über 800 Angestellten relativ niedrig sind. Zu dieser Kritik an mangelnder Effizienz kommt der Vorwurf einer ungenügenden Öffentlichkeitsarbeit hinzu. Kaum jemand in Ruanda und im Ausland interessiere sich für die Prozesse in Arusha. Zugutegehalten wird dem Gericht, dass es Einzelne nicht nur wegen Völkermordverbrechen anklagte, sondern auch aburteilte, dass Jean Kambanda, Staatsoberhaupt während des Genozids, in seinem Verfahren ein umfassendes Schuldeingeständnis formulierte und dass Vergewaltigungen beziehungsweise sexuelle Verstümmelungen als Verbrechen gegen die Menschlichkeit und durch das als richtungsweisend geltende Urteil gegen Jean Paul Akayesu als Völkermordhandlungen anerkannt wurden. Als gemeinsame Nachfolgeeinrichtung des ICTR und des Internationalen Strafgerichtshofs für das ehemalige Jugoslawien fungiert seit Juli 2012 der Internationale Residualmechanismus für die Ad-hoc-Strafgerichtshöfe.

 

Der Großteil der Täter bleibt der nationalen Gerichtsbarkeit Ruandas überlassen, der zweiten Ebene der juristischen Behandlung des Genozids. Diese ist aber aufgrund der großen Fallzahl nicht in der Lage, für zeitnahe Gerichtsverhandlungen zu sorgen. Den Völkermord überlebten nur wenige Richter. Trotz international geförderter Trainingsprogramme und Aktivitäten zum Wiederaufbau des Justizsystems blieben die Leistungsfähigkeit sowie die Unabhängigkeit der nationalen Gerichte unzureichend. Bis 2004 gab es durch ordentliche ruandische Gerichte etwa 10.000 Urteile, zwanzig Prozent davon waren Freisprüche, zehn Prozent waren Todesurteile.

 

Seit 2005 fanden daher Völkermordprozesse landesweit in sogenannten Gacaca-Gerichten statt. Zentrales Ziel der Schaffung dieser dritten Ebene war die Beschleunigung der Völkermordprozesse und die Bewältigung ihrer großen Zahl. Sozial anerkannte, gewählte Laienrichter – ihre Gesamtzahl belief sich auf etwa 260.000 – urteilten hier in öffentlichen Versammlungen, die gesetzlich festgelegten Regeln folgten und bei denen mindestens 100 Erwachsene anwesend sein mussten. Es gab in Ruanda zirka 10.000 solcher Gerichte. Neben der Rechtsprechungsfunktion sollten die Gacacas auch soziale Aufgaben erfüllen. Täter und Opfer sollten das Geschehen rekonstruieren, das Leid der Opfer sollte in den Verhandlungen öffentlich sichtbar gemacht werden. Hutu und Tutsi waren dabei nach Möglichkeit miteinander zu versöhnen. Die anfängliche Euphorie wich landesweiter Ernüchterung. Oftmals kam das notwendige Quorum von 100 erwachsenen Anwesenden nicht zusammen, weil an den Verfahren Desinteresse bestand. Häufig wurden die Leiden der Tutsi nicht von den Hutu anerkannt, Hutu fühlten sich kollektiv angeprangert, Entschädigungen für Opfer konnten nicht gezahlt werden, Drohungen gegen Zeugen waren nicht wirksam zu unterbinden, viele Opfer konnten sich nicht an den genauen Tatablauf erinnern, was eine sichere Zuordnung von Gewalttaten zu einzelnen Personen oft unmöglich machte. Skeptische Stimmen fürchteten, dass viele inhaftierte mutmaßliche Täter aufgrund von Amnestien keinen Prozess bekommen würden. Hinzu kam, dass ein Ansteigen der Prozessanzahl erwartet wurde. Statt mit 80.000 Verfahren wurde teilweise mit 1.000.000 Prozessen gerechnet, weil die Schwelle für Anklagen sank. Häufig reichten Denunziation, ein bloßer Verdacht oder das Umlenken von Anklagen auf andere, bisher nicht von der Strafjustiz beachtete Personen. Kritiker der Gacaca-Gerichtsbarkeit stellten vor dem Hintergrund solcher Schätzungen ein Scheitern jeder Versöhnungsabsicht fest, wenn nicht gar den Versuch der in Ruanda Regierenden, die Hutu durch Gacacas kollektiv zu kriminalisieren und auf diese Weise die Herrschaft der Tutsi zu festigen. Trotz dieser Mängel plädierten internationale Beobachter nicht für ein Ende der Gacaca-Gerichtsbarkeit, sondern für ihre schrittweise Verbesserung. Im Juni 2012 stellten die Gacaca-Gerichte ihre Tätigkeit offiziell ein.

 

Versöhnungspolitik

 

Die Regierung Ruandas unter der Führung der RPF versuchte nach dem Ende des Völkermords eine Politik des Wiederaufbaus und der Versöhnung. Diese Politik, von Paul Kagame wesentlich geprägt, war beeinflusst von der Abwehr der Gefahr durch Hutu-Extremisten, die von Zaire aus Ruanda destabilisieren und wiedererobern wollten. Diese Bedrohung und die Erfahrung des Völkermords führten zur Herausbildung eines ausgeprägten Sicherheitsbedürfnisses, das die Ablehnung innenpolitischer Demokratisierungsforderungen wesentlich mit beeinflusst. Internationale Beob-achter kritisieren erhebliche Mängel, wenn es um die Wahrung von Menschenrechten sowie um Presse- und Meinungsfreiheit geht.

 

Öffentlich darf in Ruanda nur von Banyarwanda, von Ruandern, nicht mehr von Tutsi, Twa oder Hutu gesprochen werden. Die Regierung hat entsprechende Eintragungen in den Personalpapieren abgeschafft. Wer mit Bezug auf die Gegenwart mit ethnischen Begriffen argumentiert, kann wegen „Divisionismus“, also der gezielten Spaltung der Bevölkerung, angeklagt werden. Zugleich zeigen Umfragen, dass die Bevölkerung sehr wohl in ethnischen Kategorien denkt und mit ihnen Menschen unterscheidet.

 

Viele Ruander beteiligen sich nicht an politischen Diskussionen, weil sie fürchten, bei nicht-konformen Meinungsäußerungen mit dem Vorwurf der Beteiligung am Völkermord bestraft zu werden. Partizipationsangebote – wie die Erörterung der Verfassung, die Planung der Gacaca-Gerichtsbarkeit oder das Engagement in den seit 1999 von der Nationalen Kommission für Einheit und Versöhnung landesweit organisierten Aussöhnungsforen – werden darum nur bedingt angenommen. Die Legitimation der Regierung in der internationalen Gemeinschaft, bei Geberinstitutionen und bei Teilen der Bevölkerung sank durch die unübersehbare Dominanz der RPF im politischen Raum und durch die Interventionen im Kongo.

 

Die Trennlinien der Gesellschaft zwischen Hutu und Tutsi sind nicht überwunden. Die Twa führen weiterhin ein soziales und politisches Schattendasein und sind kaum in der Lage, ihre Interessen zu artikulieren. Trennlinien sind zudem erkennbar zwischen Tutsi, die den Völkermord in Ruanda überlebt haben, und Tutsi, die nach Mitte 1994 aus dem Ausland zurückgekehrt sind. Diese Verwerfungen konnten durch neu eingeführte nationale Symbole – dazu gehören die Hymne und die Flagge – und eine Neuordnung der Verwaltungsgliederung Ruandas nicht überdeckt werden.

 

Ermittlungen und Klagen gegen RPF-Vertreter

 

Gegen Paul Kagame und weitere Leitungskräfte der RPF sind wiederholt Ermittlungen aufgenommen und Klagen erhoben worden, weil der Verdacht besteht, dass dieser Personenkreis führend an Verbrechen beteiligt gewesen ist. Am ICTR hat die Schweizerin Carla Del Ponte im Jahr 2000 Ermittlungen gegen RPF-Mitglieder initiiert, die im Verdacht stehen, während des Bürgerkriegs und anschließend schwere Verbrechen begangen zu haben. Diese Ermittlungen, die nicht abgeschlossen wurden, stießen bei der ruandischen Regierung auf Missfallen. Das soll 2003 mit zur Ablösung del Pontes als Chefanklägerin des ICTR beigetragen haben. Der französische Ermittlungsrichter Jean-Louis Bruguière erhob gegen den ruandischen Präsidenten und neun weitere Personen Anklage. Sie werden für den Abschuss der Präsidentenmaschine am 6. April 1994 verantwortlich gemacht und damit für die Ermordung der Crew und aller Insassen des Flugzeugs. Die Anklage führte zum Abbruch der diplomatischen Beziehungen zwischen Frankreich und Ruanda. Im Februar 2008 wurden in Spanien internationale Haftbefehle gegen 40 Angehörige der RPF ausgestellt. Die Gesuchten werden beschuldigt, in Ruanda und Zaire schwere Verbrechen begangen zu haben. Kagame zählt zum Kreis der Beschuldigten. Die ruandische Regierung sprach von einer Kampagne, die von Hutu-Extremisten inszeniert worden sei. Im November 2008 gerieten die Beziehungen von Deutschland und Ruanda in eine Krise. Deutsche Behörden hatten zuvor Rose Kabuye, eine Vertraute Kagames sowie ehemals ranghohes Mitglied der RPF, festgenommen und an Frankreich ausgeliefert. Die französischen Behörden warfen ihr die Beteiligung am Abschuss der Maschine von Juvénal Habyarimana vor. Untersuchungen haben jedoch ergeben, dass dieser Vorwurf unberechtigt war. Die französische Regierung hat dies mittlerweile klargestellt.

 

Ruandische Anschuldigungen gegen Frankreich

 

Im August 2008 folgte als Reaktion Ruandas die Drohung, internationale Haftbefehle gegen hochrangige französische Offizielle zu erlassen. Der ruandischen Regierung zufolge liegt ein Report vor, der zwanzig französischen Militärangehörigen sowie zwölf Politikern, darunter Édouard Balladur, Alain Juppé und François Mitterrand, eine führende Rolle bei der Durchführung der Massaker zuweist. Von französischer Seite werden sämtliche Anschuldigungen entschieden zurückgewiesen.

 

Frankreich unterhielt seit der Hutu-Revolution enge Kontakte zur Regierung und betrachtete Ruanda als wesentlichen Teil der Frankophonie und damit des eigenen Einflussbereichs in Afrika. Die Übergriffe der RPF wurden als „anglophone“ Aggression und Bedrohung empfunden, als Versuch, Ruanda zu übernehmen und aus dem französischen Einflussbereich herauszulösen. In diesem Zusammenhang wird Frankreich auch beschuldigt, mit der légion présidentielle einen Stab für Strategie und psychologische Kriegführung innerhalb der ruandischen Armee geschaffen zu haben, der nur auf Weisung Mitterrands gehandelt habe. Nach Beginn des Völkermords seien überdies zahlreiche französische Militärs im Lande geblieben. Sie seien in ruandische Hutu-Armeeeinheiten eingegliedert worden, die aktiv am Völkermord teilnahmen. Nach einer Verlautbarung des ruandischen Justizministeriums sollen französische Soldaten auch im Rahmen der Opération Turquoise aktiv an den Massakern teilgenommen haben.

 

Deutungen und Debatten

 

Die Ereignisse in Ruanda zwischen April und Juli 1994 wurden von Politik und Publizistik zunächst fast durchweg als „Stammesfehde“ bezeichnet. Uralter Hass sei mit einer Plötzlichkeit und Heftigkeit ausgebrochen, die die Betrachter kopfschüttelnd zurückließen.

 

Relativ rasch deuteten Menschenrechtler und Wissenschaftler das Geschehen ganz anders. Die Gewalt sei modern, systematisch und beabsichtigt gewesen. Ein bestimmter Kreis extremistischer Hutu-Politiker habe sie geplant und sie gezielt gegen eine rassisch definierte Minderheit gelenkt. Für die Freisetzung der Gewalt habe dieser Kreis moderne, in der Kolonialzeit manipulierte ethnische Kategorien genutzt sowie eine moderne Ideologie des ethnischen Nationalismus. Auch hätten diese Politiker gezielt die staatlichen Strukturen Ruandas zur Umsetzung ihrer Politik benutzt. Das Land habe keinen Rückfall in Tribalismus erlebt, sondern einen modernen Völkermord.

 

Es gibt in der Literatur über den Völkermord in Ruanda keinen Konsens, was die Ursachen der Gewalt angeht. Es lassen sich drei große Erklärungsmuster unterscheiden. Das erste betrachtet den Völkermord als eine Maßnahme, zu der eine in ihrer politischen Macht existenziell herausgeforderte Gruppe – das „kleine Haus“ (akazu) – griff, um den drohenden Machtverlust abzuwenden. Der Völkermord erscheint damit als Manipulation einer Elite. Ein zweiter Erklärungsansatz bezieht sich auf die natürlichen Ressourcen Ruandas, die sich vor dem Völkermord immer rascher und dramatischer verknappten. Landknappheit, weitgehend fehlende Existenzgrundlagen außerhalb der Landwirtschaft, zugleich hohe Geburtenraten und letztlich eine „Überbevölkerung“ seien die entscheidenden Antriebskräfte der Völkermord-Gewalt gewesen. Ein drittes Erklärungsmuster rückt Annahmen über kulturelle Eigenheiten Ruandas und angeblich charakteristische sozialpsychologische Eigenschaften seiner Bewohner in den Mittelpunkt. Ruander seien es gewohnt gewesen, Befehlen fraglos zu folgen. Ein regelrechter Hang zum Gehorsam sei weit verbreitet. Dieser charakteristische Zug habe die Einbindung von Hunderttausenden als Täter möglich gemacht.

 

Viele Studien befassen sich mit der Verantwortung der internationalen Gemeinschaft für den Völkermord. Ein Großteil der Autoren kritisiert das Agieren der wesentlichen internationalen Akteure scharf. Der frühe Rückzug der UNAMIR und die wochenlange Inaktivität der entscheidenden internationalen Akteure hätten eine Mitverantwortung der Weltgemeinschaft für den Völkermord zur Folge. Möglichkeiten einer raschen Beendigung seien nicht genutzt worden, obwohl das Ausmaß der Gewalt frühzeitig bekannt gewesen sei.

 

Der Politikwissenschaftler Alan J. Kuperman stellte zentrale Annahmen dieser Kritik an der Weltgemeinschaft in Frage. Er betont, frühzeitig habe es keine eindeutigen Beweise für einen Völkermord in Ruanda gegeben. Die Gewalttaten seien lange als Bürgerkriegserscheinungen interpretiert worden. Zudem hätte eine erfolgversprechende Intervention einige Wochen an logistischem Vorlauf benötigt. In dieser Zeit seien mindestens die Hälfte der Opfer bereits getötet worden. Die amerikanische Historikerin Alison Des Forges widersprach Kuperman entschieden.

 

In den publizistischen Auseinandersetzungen spielt gelegentlich eine Rolle, inwieweit die Gewalttaten der RPF gegen Hutu ebenfalls als Völkermord einzuordnen seien. Wäre dies der Fall, müsse man von zwei, eventuell sogar von drei Völkermorden sprechen; einer hätte den Tutsi und den gemäßigten Hutu gegolten, dem zweiten seien Hutu innerhalb Ruandas zum Opfer gefallen, als die RPF die politische und militärische Macht übernahm, und der dritte Genozid sei in den Lagern Ostzaires an Hutu-Flüchtlingen begangen worden. Eine empirische Studie hat diese Frage untersucht. Der Autor berichtet über stark abweichende Tötungsmuster. Nur die Gewalt an den Tutsi und den moderaten Hutu sei ein Völkermord gewesen. Die Gewalt gegen die Hutu sei mit den Begriffen Terror beziehungsweise Massaker, nicht aber mit dem Begriff Genozid korrekt bezeichnet.

 

Anfang Oktober 2010 erschien ein Bericht des UNHCHR. Ruanda wird darin vorgeworfen, schwere Menschenrechtsverletzungen im Kongo begangen zu haben bzw. an diesen beteiligt gewesen zu sein. Nach dem Bericht gebe es Indizien dafür, dass die von Ruandas Regierung unterstützen Milizen dort Völkermord verübt hätten. Opfer seien Hutu gewesen, insbesondere Kinder, Frauen, Alte und Kranke. Ruanda wies den Bericht zurück.

 

Im Januar 2012 kam ein Bericht des französischen Untersuchungsrichters Marc Trévidic zu dem Ergebnis, dass das Flugzeug von Präsident Habyarimana 1994 durch eine Hutu-Rakete getroffen worden sei. Trévidic führte seine Ermittlungen mit Hilfe mehrerer Flug- und Ballistikexperten vor Ort durch. Die Rakete ist den Untersuchungen zufolge nicht aus einer Stellung der Tutsi-Rebellen abgefeuert worden, sondern aus dem Militärcamp Kanombé, also von Habyarimanas Regierungs-truppen. Das Attentat auf Habyarimana hätte Hutu-Extremisten als Vorwand für den Genozid gedient.