Albert Schweitzer ( 1875-1965)

 

Der Arzt von Lambaréné

 

Sein Lebensweg war ein langer, weiter Weg, der zu vielen Leidenden, zu vielen armen und kranken Menschen führte.

 

Doch an seinem weiten Wege läutete ein Glöckchen. Schon im zarten Knabenalter hatte das einsame Glöckchen ihn zu der kleinen Dorfkirche im oberelsässischen Günsbach geleitet, in der sein Vater das würdige Amt eines Dorfpfarrers bekleidete. Die Kirche allein war es aber im Grunde anfänglich nicht, die ihn magisch fesselte. Nein, die schöne Orgel der Kirche war es gewesen, die ihn sofort begeistert hatte - und im späteren Leben Triumphe feiern ließ. Solche Töne aber, wie die der Orgel - so glaubte der kindliche Kritiker - könne nur ein richtiger Teufel herrlich genug zelebrieren. Somit galt es als eine ausgemachte Sache, daß der ältliche Herr Kantor, der mit augenscheinlich listigen, schrägen Blicken ständig von der Orgel herab die feierlichen Handlungen seines Vaters am Altar verfolgte, in Wirklichkeit der Teufel in Person sein müsse.

 

Geboren 1875, verliefen seine jungen Jahre ohne große Geräusche, denn als ausgesprochener "Bücherwurm" fraß er sich leise, doch sehr geschwind durch die deutsche und französische Literatur hindurch, wobei Schönheit und Stil einer Sprache wohl sehr schnell - wie bemängelt wurde auf der Strecke bleiben mußten. Nur der reale stoffliche Reiz der Dinge und sein Talent zur Musik konnten anfänglich einen Platz von Bedeutung in ihm erlangen. Nach der Zeit der Reifung sollte traditionsgemäß - wie bei seinen Vorvätern - die Theologie das Wort behalten. Wenn es auch dabei blieb, so traten später doch noch einige andere Wissenschaften - der Vollständigkeit halber sozusagen - hinzu die Albert Schweitzer nicht nur populär, sondern zu einem großen Menschen und Mahner der Menschheit werden ließen.

 

Schon als 30jähriger Pfarrer hatte er bereits in Theologie und sogar in Philosophie promoviert, um anschließend eine Professur für Theologie in Straßburg zu erlangen. Doch die siebenjährige Studienzeit in Straßburg und Paris erschien ihm für seine kommende Lebensaufgabe nicht auszureichen. Die Orgel war es ja schließlich nicht alleine, die ihn als Theologen mit künstlerischen Talenten "teuflisch" bewegte, nein, sondern völlig neue, unwägbare Pläne waren plötzlich am Horizont, am schwarzafrikanischen Horizont, bei ihm aufgetaucht, die auf Verwirklichung und Vollendung drängten. Hierbei darf nicht verschwiegen werden, daß es dem nunmehr jungen Herrn Professor der Theologie schon eine adäquate Portion Überredungskunst gekostet haben muß, um seinen erzkonservativen Eltern und Freunden solche seltsamen Gedanken ohne unverständliches Kopfschütteln plausibel zu machen.

 

Es war das aufkommende neue Jahrhundert, das auch in dem jungen Gelehrten leuchtend aufdämmerte. Nicht nur der eigene Horizont des Zeitgeistes, sondern auch der Horizont zu der übrigen, benachbarten Welt unseres Planeten erweiterte sich nunmehr gewaltsam und unaufhaltsam. In Afrika, im schwarzen Afrika - so hörte man - mangele es an medizinischer Versorgung außerordentlich. Die Namen: Kongo, Ogowe, Lambaréné und eine Vielzahl schwerwiegender Mangel- und Tropenkrankheiten tauchten vor seinem geistigen Auge nunmehr auf. Seine von Theologie und Philosophie geprägte humanistische Weltanschauung, die die "Ehrfurcht vor dem Leben" als oberstes Gebot ansieht, setzte sich nunmehr mit dem Entschluß auch noch Arzt zu werden, schrankenlos durch. Erneut mußte er als Student seinen Platz in den Hörsälen der Universitäten von Straßburg und Berlin einnehmen, bis er auch in dieser Fakultät zum Doktor der Medizin promovieren konnte.

 

Das neue Jahrhundert war inzwischen zwölf Jahre alt geworden, als endlich die beschwerlichsten Mühen beendet sein sollten. Doch weit gefehlt! Die Verwirklichung seiner Lebensaufgabe, die mit der großartigen Idee der Errichtung eines Urwaldhospitals im äquatorialafrikanischen Lambaréné seinen Höhepunkt finden sollte, stand ihm noch bevor.

 

Mit der Tochter eines Straßburger Historikers, Helene Breßlau, die eigentlich schon immer große Angst vor Schlangen, Spinnen und "schwarzen Menschen" gehabt hatte, ging er vermählt mit ihr - kurzerhand in den Teil der Welt, in dem man gewöhnlich diesen "Schrecknissen" am ehesten zu begegnen glaubt: In den Urwald, nach Lambaréné. Doch diese spaßvoll bezeichneten Schrecknisse, erwiesen sich bei der jungen Frau keineswegs als das größte Übel. Das Übel des gesamten Gedankens war und blieb die medizinische Unterversorgung der Region des Landes Gabun und die damit verbundenen finanziellen Aufwendungen, die anfänglich unlösbar erscheinen mußten. Aus kargen Erlösen von Buchveröffentlichungen, Vorträgen, Orgelkonzerten, sowie privaten und öffentlichen Zuwendungen, konnten erste Maßnahmen zur Errichtung eines Tropenspitals mit Leprastation in Angriff genommen werden.

 

Der Erste Weltkrieg jedoch, machte einen weiteren Ausbau nahezu unmöglich, und so sah er sich bald als Zivilinternierter im halbheimatlichen Frankreich wieder. In der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen trieb er dann doch sein Vorhaben weiter voran, so daß er hierfür große Ehrungen in Empfang nehmen konnte. Seine erfolgreichste Lebensphase begann nach dem Zweiten Weltkrieg, in der er, ungestört von politischen Widrigkeiten und Querelen, der Menschheit den Dienst erweisen konnte, der ihm Dank seiner energievollen, begnadeten Fähigkeiten seit frühester Jugend stets vorgeschwebt hatte.

 

Trotz der enormen Leistungen, die sich in fortschreitenden Verbesserungen im Leben des Spitals offenbarten, nahm er sporadisch zugleich auch seine Wirksamkeit im europäischen Kulturleben durch Orgelkonzerte, Vorträge (war ein bedeutender Bachforscher) und Reden wahr, die der Erstarkung echter humanistischer Gemeinsamkeiten dienen sollten, die nicht nur im europäischen Raum, sondern auch in der übrigen Welt gehört und gewürdigt wurden. Diese Erfolge zeichneten sich in den großen Ehrungen, wie dem Goethe-Preis, den Ehrendoktorwürden zahlreicher Universitäten, dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels (1951) und dem Friedensnobelpreis im Jahre 1952 aus.

 

Seine eigenständige, aus wahrer Theologie und wahrem humanistischen Denken geborene Ethik wurde von allen friedfertigen Menschen verstanden. Die große, ja wichtige Selbsterkenntnis des Menschen, die schon durch Descartes "Cogito ergo sum" (ich denke, also bin ich) erkannt worden war, wurde durch die erweiterte Bewußtwerdung der Daseinsfrage: "lch bin Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben will", zur generalisierten These seiner prinzipiellen Ethik menschlichen Denkens und Handelns.

 

Dem relativierten ethischen Einwand, daß "Leben aus Leben besteht und hervorgeht", ist die aus logischer Konsequenz resultierende, aus logischer Notwendigkeit geborene Einsicht der "ethischen Verpflichtung des Seins gegenüber" konsequent entgegen zu setzen. Der echten Humanität im Sinne der Theologie, die mit Bedacht dem selbstzerstörerischen falschen Skeptizismus der Welt Einhalt zu gebieten hat, widmete Albert Schweitzer sein Leben, das, eingedenk seiner Wandlung vor 30 Jahren, am 4. September 1965, einen Schlußstrich, aber keineswegs seinen Schlußpunkt erfuhr.

 

Im Hinblick auf seine global zu begreifende, verpflichtende Ethik, setzte er sich auch tatkräftig und mutig gegen die Gefahren eines Atomkrieges und die der Zerstörung der Umwelt sowie für die erst später aufkommenden Bestrebungen des Umweltschutzes unseres getretenen Planeten ein, um kommenden Generationen im humanistischen Denken und Fühlen zum Sieg des Geistes zu verhelfen.

 

Die augenblickliche, heutige Situation des Spitals Lambaréné wird von großer Zuversicht getragen. Im Jahre 1974 wurde es von einer internationalen Stiftung (Fondation Internationale), mit Sitz in Lambaréné, übernommen. Das zum Klinikum herangewachsene Spital, in dem hervorragende, moderne medizinische Leistungen hervorgebracht werden, wird wegen seines besonders spezifischen Charakters in der Welt international geleitet und vorbildlich betreut.